Durch Analyse zum Streitende
Das „Friedensgutachten 2019“ erscheint dieses Jahr im Juni. Im Interview erzählt Mitautorin und Nahostexpertin Dr. Margret Johannsen, wie man hilft, schwierige Konflikte zu lösen, und wieso auch wissenschaftliche Friedensarbeit dem Bohren dicker Bretter entspricht.
Seit 1987 erscheint ein jährlicher Bericht von vier deutschen Friedensforschungsinstituten (BICC /HSFK /IFSH /INEF) unter dem so simplen wie eindeutigen Titel „Friedensgutachten“. Mitverfasserin ist Dr. Margret Johannsen, Autorin des Buchs „Der Nahost-Konflikt. Eine Einführung“. Wann immer möglich, prangert die Nahostexpertin kriegsförderliche Missstände der deutschen Außenpolitik an.
sagwas: Frau Dr. Johannsen, wie hat man sich Ihre Arbeit als Friedensgutachterin vorzustellen?
Dr. Margret Johannsen: Grundsätzlich fragen sich Friedensgutachter: Wo steht eine bestimmte Region dieser Welt zwischen Krieg und Frieden? Wir wollen Politikern, Journalisten und der Öffentlichkeit ein Urteil ermöglichen, ob die Politik den Frieden oder den Krieg in einer Region dieser Welt fördert.
Wie stellen Sie sicher, dass das Wissen über die teilweise komplexen Ursachen von Konflikten lebensnah und lösungsorientiert bleibt?
Man muss auch etwas von einer Region verstehen, sonst kann man keinen Rat erteilen. Methodisch betreiben wir hierfür zum Beispiel Feldforschung. Dafür besuchen wir konfliktträchtige Gebiete und sprechen vor Ort mit Akteuren – einfachen Menschen, Politikern, Kriegsherren und Soldaten. Dafür reisen Wissenschaftler unserer vier Institute auch in ein Kriegs- oder Bürgerkriegsgebiet wie in Zentralasien, Kolumbien oder Mali. Wir informieren uns aber auch durch umfängliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Berichterstattung, mit Experten, mit Fachkollegen oder auf Konferenzen.
Wie kann man mit einem Friedensgutachten konkret den Frieden fördern?
Ich habe im Oktober 2008 eine Konferenz mitorganisiert, in der Iren und britische Nordiren mit Israelis und Palästinensern zusammenkamen. Sie haben ihre Konflikte miteinander verglichen und sich Handlungsspielräume überlegt. Bei dieser Begegnung haben Israelis und Palästinenser zugehört, wie die Briten und Iren ihre „Troubles“, wie man das damals nannte, bewältigt haben. Das ist ein Beispiel für Prozesse, die man organisieren kann, um aus gelungenen Ansätzen zu lernen.
Aber wir analysieren nicht nur, wir liefern auch Vorschläge. Wir beantworten die Frage: Wie kann eine bestimmte Konfliktsubstanz gelöst werden? Konflikte gibt es immer! Aber es kommt eben darauf an, auf welchem Wege Konflikte ausgetragen werden – und ob sich Kompromisse für eine Lösung bieten. Lösung bedeutet: Alle Beteiligten werden soweit zufrieden gestellt, dass sie nicht mehr zu den Waffen greifen.
Man muss eine Region verstehen, sonst kann man keinen Rat erteilen
Dr. Margret Johannsen
Welche Kompromisse wurden bei besagtem irisch-nordirischen Konflikt herausgearbeitet?
In Nordirland bereitete der ehemalige amerikanische US-Senator George Mitchell von 1996 bis 2001 die Außerbetriebnahme der Waffen paramilitärischer nordirischer Akteure vor. Davon kann man lernen. Auch in anderen Konflikten wie zwischen Israel und den Palästinensern sind diverse Akteure bewaffnet: Siedler, Besatzungsmacht und palästinensische Milizen im Gazastreifen. Immer, wenn viele Konfliktparteien Waffen tragen, ist das Abrüsten ein langwieriger Prozess. Das ist nur ein kleiner Teilaspekt des Friedens. Es geht darum, sich die Dimensionen eines Konflikts klar zu machen. Am Beginn stehen nicht Waffen, sondern Interessensunterschiede. Wenn das Abgeben der Waffen mit „Identitätsproblemen“ zusammenhängt, muss ein Waffenträger seinen Lebensunterhalt im zivilen Bereich verdienen können.
Sind Verfasser der „Friedensgutachten“ mit klassischen Diplomaten vergleichbar?
Ich würde sagen, dass Diplomaten letztlich als Beauftragte von Regierungen und überwiegend diskret handeln. Dagegen transportieren Friedensgutachter ihre Ergebnisse in die Öffentlichkeit.
Nehmen wir das Beispiel Deutschland: Deutschland exportiert Rüstungsgüter und Waffen in Länder, in denen Krieg geführt wird oder beliefert Staaten, die am Krieg im Jemen unmittelbar beteiligt sind. Ein Diplomat veröffentlicht hierzu keine Meinung. Ein Friedensforscher fragt hingegen: Ist es ethisch richtig und politisch gewollt, dass deutsche Rüstungsindustrielle Kriegsgeräte in Spannungs- und Kriegsgebiete exportieren? Solche Fragen stellen wir uns mit demokratischem Anspruch. Wir wollen die Öffentlichkeit befähigen, informierter an politischen Debatten teilzunehmen.
Haben Sie Beispiele dafür, wann Ihre Friedensarbeit direkt gefruchtet hat?
Wir haben uns vor ein paar Jahren intensiv mit automatisierter Kriegsführung auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Anwendung von Drohnen sehr gefährlich ist. Drohnen senken die Schwelle zum Krieg. Das tun sie, indem sie die eigenen Verluste minimieren. Dieses Problem haben wir prägnant formuliert und erhielten wenige Tage später eine Gesprächseinladung von einem Minister. Anschließend wurde eine Formulierung von uns wörtlich in den Bundestagswahlkampf aufgenommen. Das sind so seltene Augenblicke, in denen man feststellt, dass da direkt etwas gewirkt hat. Aber insgesamt würde ich sagen, dass unsere Arbeit auf Langfristigkeit ausgerichtet ist.
Wo haben Sie und Ihre Kollegen sonst noch Empfehlungen gemacht?
Etwa in Hinsicht auf die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung. Wir wollen, dass diese streng eingehalten werden. Das tun wir, indem wir darauf bestehen, dass die Bundesregierung ihre Positionen auch in der EU tatsächlich vertritt. Damit begeben wir uns natürlich in den politischen Streit. Aber ich würde nicht sagen, dass es uns auf direktem Wege gelungen wäre, die Politik zu ändern. Es ist eher wie ein Bohren dicker Bretter und am Ende entsteht etwas, wo die genaue Urheberschaft nicht mehr festzumachen ist. Aber entscheidend ist doch, dass wir gute Argumente für den Frieden finden.
Ist dieser parapolitische Raum mithilfe eines Gutachtens am ehesten geeignet, den Status Quo zu verändern?
Ich würde da keine Hierarchie aufbauen. Wir arbeiten mit der Kraft des Arguments. Es gibt andere, die in Kriegsgebieten vermitteln. Etwa die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), die in der Ukraine als Beobachter die Basis legt für etwas, das man irgendwann einmal „Vertrauen“ nennen kann. Das ist ein ganz anderer, ebenso wichtiger Umgang mit dem Thema „Krieg oder Frieden“.
Ihre Empfehlungen für die Politik geben Sie seit über 32 Jahren heraus. Wie hat sich Ihre Arbeit gewandelt?
Seitdem hat sich viel getan. Damals war das Friedensgutachten vor allem mit der erneut hochaktuellen Frage der Hochrüstung beschäftigt. In den letzten Jahren wurden Themen wie Klimawandel, Migration und innerstaatliche Gewalt aufgenommen. Denn auch solche Veränderungen können zu Unfrieden oder Kriegen führen.