Erinnerung an das Vergessen
Wenn ich ein Gedicht über F. schreiben müsste, es begänne so: „Fahles Frühlicht fällt ein/ und aus deinen lebendigen Augen/ strahlt dumpf/ der Erinnerungstod.“ Ich würde es “Der verschwindende Mann“ nennen.
F. war der Mann meiner Großtante. Zu meinen liebsten Erinnerungen an F. zählen unsere gemeinsamen Teestunden: Als gebürtiger Ostfriese hielt er es mit der Tradition, den Vormittag mit einigen Tassen starken Schwarztees zu begehen, und an vielen Wochenenden konnte man mich pünktlich um halb elf auf dem Sofa der beiden antreffen, eine dampfende Tasse vor mir. Doch der Tee war nur eine Nebensächlichkeit – das wirklich Aufregende waren die Geschichten und Erinnerungen, an denen meine Verwandten mich teilhaben ließen. Das Paar war immerhin sehr unternehmenslustig gewesen. Und sie konnten meine Aufmerksamkeit mit ihren Erzählungen über Bomben, die vom Himmel fielen, und über kalte Wellen, die Marine-Soldaten unter sich begruben, stundenlang fesseln.
Vergangenes, das nie aufhört, zu sein
Erinnerungen, so formuliert es der Philosoph Michael Jungert, sind „nicht nur der rote Faden im Leben von Personen, […] sondern der rote Faden des Lebens.“ Die Bewertung des eigenen Lebens als sinnhaft stützt sich auf mannigfaltige Erinnerungen, die uns lehren, wer wir sind, und die uns eine Bedeutung und Aufgabe im Sein geben. Die Erzählungen meiner Verwandten enthielten eine so menschliche, existenzielle Tiefe, durch die mir erst bewusst wurde, wie sehr ein Mensch Summe seiner eigenen Geschichte, seiner Erinnerungen ist: Vergangenes mag vergangen sein, aber niemals können wir ganz abstreifen, was uns widerfahren ist. Große und kleine Ereignisse formen unsere Identität. Ob wir wollen oder nicht.
Eine schleichende Erkrankung
Ich weiß nicht mehr genau, wann F. begann, vergesslich zu werden. Derartige Dinge geschehen langsam, darin liegt ihre Tücke. Das bestätigt auch Dr. Thomas Arendt auf der Webseite der Alzheimer Forschung Initiative e.V.: Noch bevor sich überhaupt erste Symptome zeigen, verändert sich bereits das Gehirn, manchmal über Jahrzehnte hinweg. Zu den ersten Anzeichen einer beginnenden Demenz zählen dann nicht nur die typischen Gedächtnislücken und das Verlegen von Dingen. Auch Schwierigkeiten in der Alltagsgestaltung und der Orientierung bis hin zu Wahrnehmungs- und Wortfindungsstörungen veranlassen die Erkrankten, sich aus dem sozialen Leben zurückzuziehen, und mitunter auch zu aggressivem Verhalten. So war es auch bei F.: Kleinigkeiten zunächst, über die er selbst lachte, wie ein scheinbar unauffindbarer Schlüssel, der Gang ins falsche Zimmer, Unsicherheiten bezüglich des Datums. Auch meine Erinnerung an jene Zeit ist nicht mehr chronologisch, viele Bilder liegen übereinander wie ein unsortierter Stapel Familienfotos: F., der immer öfter seltsame Kommentare in ein Gespräch streut. Der mitten in der Nacht aufsteht. Der anruft, immer wieder, und nicht begreifen will, wo seine Frau ist, die für eine Zeit ins Krankenhaus muss. Nicht begreifen kann.
Wiewohl die Begriffe Demenz und Alzheimer gewöhnlich synonym verwendet werden, ist den beiden Krankheitsbildern ein Unterschied immanent. Während Demenz als ein Sammelbegriff für über 50 verschiedene Krankheiten dient, ist die Alzheimer-Demenz nur eine von ihnen – mit einem ungefähren Anteil von 60-65 Prozent allerdings die häufigste. Allen Demenz-Erkrankungen ist gemein, dass die geistigen Fähigkeiten allmählich schwinden. Bei fortgeschrittener Krankheit erkennen Erkrankte ihre Angehörigen nicht mehr, manchmal nicht einmal sich selbst: Die Person im Spiegel wird plötzlich zu einer bedrohlichen Fremden.
Ich denke zurück an jenen Tag, als ich F. – inzwischen auf einer geriatrischen Station – besuchte; typisch fester Händedruck, sehr warm und etwas rau, aber seine Augen lagen ruhelos auf mir, mein vielgesagter Name wollte ihm einfach nicht über die Lippen. Sein verräterisches Gehirn hatte ihn aussortiert wie einen Fremdkörper, aber sein Geist war noch wach genug, um es zu bemerken. Diesen Spalt zwischen Dasein und langsamem Verschwinden: Ich stelle ihn mir unendlich einsam und erdrückend, ja angsteinflößend vor.
Die Forschung stagniert derzeit – nicht in ihrem Eifer, aber in ihren Ergebnissen. Vollständige Klarheit über die Ursache der Alzheimer-Krankheit besteht selbst hundert Jahre nach ihrer Entdeckung immer noch nicht. Zwar weiß man inzwischen, dass sich im Gehirn Ablagerungen bilden, die eine Kommunikation zwischen den Nervenzellen solange beeinträchtigen bis diese absterben. Warum es aber überhaupt dazu kommt, ist bis heute ein Rätsel. Und ein gefährliches dazu: Die Deutsche Demenzhilfe schätzt, dass angesichts der steigenden Lebenserwartung bis 2050 drei Millionen Demenzkranke zu verzeichnen sein werden, sollte keine effektive Therapie gefunden werden. Dem stehen aktuell nicht einmal zwei Millionen Pflegekräfte gegenüber.
Vergessen, Zwilling des Erinnerns
Vielleicht hatte F. insofern Glück, als es nicht mehr zur vollkommenen Auflösung seines Selbst kommen konnte. Bei unserem letzten Treffen war er so klar wie lange nicht mehr, diesmal kam ihm mein Name ganz ungezwungen über die Lippen und der Abschied war geprägt von seinem unverbesserlichen Humor. Wie früher. Diese Tage mit F., die guten wie die schlechten, sind fest verwoben in dem, wie Jungert es formuliert, roten Faden meines Lebens. Neben allem, was ich durch F. gelernt habe – den Wert von Herzlichkeit, die Realität lebenslanger Liebe – bleibt auch dies im Gedächtnis: Wie wichtig Erinnerungen für unser Wohlbefinden und unsere Identität sind und auch, wie fragil sie sind. Der rote Faden Erinnerung wird sich weiterspinnen, er wird Schlaufen bilden und gewiss auch den ein oder anderen Knoten und vielleicht wird er sich schließlich eines Tages langsam, zunächst unbemerkt, einfach auflösen.