Europa, chaotisch, zerfällt
Die Akropolis steht mit ihren Ruinen nicht nur symbolisch für den Zerfall der griechischen Finanzpolitik, sie spiegelt auch das labile Gerüst der Europäischen Union wieder. Flüchtlingskrise, Ukraine-Konflikt und Debatten über die Todesstrafe bringen die europäischen Säulen zum Wackeln.
Es sind siebzig Jahre vergangen, seitdem das Ende des Zweiten Weltkrieges die europäischen Regierungschefs vor eine neue Herausforderung stellte. Sieben Jahre Krieg hatten ein Schlachtfeld hinterlassen, das bis heute nicht vollständig aufgeräumt worden ist.
Eine Staatengemeinschaft sollte die Völker wieder zusammenführen. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entwickelte sich zu einer Garantie für die wirtschaftliche und politische Teilhabe am Wohlstand. Sie war der Traum vieler Staaten, die, gezeichnet durch zwei Weltkriege, bei Null anfangen mussten. Doch ebenso groß wie die Wunschvorstellung eines friedlichen Zusammenlebens war die Herausforderung, Völker verschiedener Kulturen unter einer politischen Instanz zu vereinen.
Das Europamotto „In Vielfalt geeint“ trifft heute mehr denn je zu. 28 Mitgliedsstaaten machen die EU zu einem multikulturellen Sammelbecken für die verschiedensten politischen und kulturellen Vorstellungen.
Verbindende Elemente sind illusorisch
Brüssel schlägt sich im europäischen Hindernisparcours zur Zeit die Knie auf. Verbindende Elemente wie der Euro oder Reisefreiheit sind zu illusorischen Hülsen mutiert, die bei nächster Gelegenheit zerplatzen könnten. Um sich vor unerwünschten Flüchtlingen zu schützen, werden Grenzkontrollen eingeführt. Immer mehr Staaten schielen neidisch auf britische Pfunde oder dänische Kronen.
Europakritische Stimmen werden lauter, sie fordern unter anderem die Rückbesinnung auf nationale Werte. „Der Euro ruiniert Europa“ und „Mehr für Bürger. Weniger Brüssel“ titeln die Wahlplakate der Alternative für Deutschland (AfD). Sie fragt ernsthaft: Warum sollte ein beflissener deutscher Bürger für das exzessive Leben des griechischen Staates aufkommen oder gar als „Weltsozialamt“für Flüchtlinge fungieren?
Und dann diskutiert auch noch Ungarn die Wiedereinführung der Todesstrafe. Demnächst ziehen wir wohl besser einen Schutzwall durch’s gesamte Mittelmeer und schützen die Fish&Chips mit Stacheldraht vor Tsatsiki und Gyros. Hauptsache, wir bewahren die nationalen Traditionen, während Brüssel weiterhin beteuert, es hätte doch niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Leider sprechen die Grexits und Brexits dieser Tage eine andere Sprache. Europäisch klingt sie nicht. „Non à Bruxelles, oui à la France“– Robert Schuman würde sich im Grab umdrehen oder den Le Pens höchstpersönlich die Münder mit Baguette und Käse stopfen.
Raus aus der Manege
Was ist aus der einstigen Koryphäe Europa geworden, die nach Kriegsende so gleißend hell erstrahlte? Woher kommt der europafeindliche Regen, der immer wieder schauerartig über die Länder zieht? Die Ursachen könnten in den Urinstinkten des Menschen liegen, ist dieser doch ein Gewohnheitstier und scheut die Veränderung seiner natürlichen Wildbahn. Verlust von Macht und die Anpassung an Regeln gleichen einem Zirkusleben in der Manege. Zum Erhalt des schönen Scheins werden die Länder an der Leine vorgeführt, während die Zuschauer amüsiert applaudieren und verwundert staunen.
Doch es scheint die Zeit gekommen, da es den hohen Staatstieren reicht und ihnen der Käfig zu klein wird. Man besinnt sich auf vergangene Zeiten, in denen das Leben nach eigenen Regeln und Vorstellungen verlief. Man will zurück in die eigene Wohlfühlzone, wo bekannte Kulturen und Traditionen direkt neben Chips und Fernbedienung auf der Couch liegen.
Wozu staatenübergreifende Kooperationen, die Frieden und wirtschaftliche Stabilität sichern? Wozu die Anstrengung, über gemeinsame Umweltbestimmungen oder Flüchtlingshilfsprogramme nachzudenken? Siebzig Jahre nach Kriegsende kann doch ruhig mal wieder eine Katastrophe ausbrechen. Aber bitte erst nach der Tagesschau. Man muss sich doch informieren, was in der Welt passiert, wohlgemerkt über den Flimmerkasten. Bloß keine zu intensiven und gar persönlichen Kontakte. Die beschränken sich bitte auf den nächsten Sommerurlaub auf Lampedusa, der aber auch nur stattfindet, wenn Renzi bis dahin eine Lösung für das Flüchtlingsproblem gefunden hat.