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„Gefangene haben keine Lobby“

Von Pauline Reinhardt / 22. April 2020
picture-alliance / ZB | Patrick Pleul

Alexander Manders begleitet als ehrenamtlicher Helfer beim Caritasverband Leipzig e.V. Strafgefangene. Mit Briefen und persönlichen Treffen bringt der 32-Jährige Abwechslung und ein Gefühl von Normalität in den Gefängnisalltag der Insassen.

sagwas: Herr Manders, Sie haben Erziehungswissenschaften in Erfurt und Halle (Saale) studiert und sind derzeit im Bildungswesen tätig. Seit wann begleiten Sie Strafgefangene?

Alexander Manders: Seit 2013 bin ich über den Caritasverband Leipzig ehrenamtlich im Strafvollzug tätig. In diesen sieben Jahren hatte ich Kontakt zu sieben Strafgefangenen, zu einer intensiveren Begleitung kam es bei zweien.

Was sind das für Menschen, die sich eine ehrenamtliche Begleitung wünschen?

Häufig haben die Menschen, die sich an die Caritas wenden, keine sozialen Kontakte außerhalb des Gefängnisses; entweder weil sie bereits vor der Haft sozial isoliert waren oder im Zusammenhang mit der begangenen Straftat ihre Kontakte verloren haben. Ich hatte bisher ausschließlich Kontakt zu männlichen Strafgefangenen – der jüngste war Anfang zwanzig, der älteste knapp über siebzig. Der Strafvollzug ist eine sehr männliche Domäne. In Sachsen gibt es zehn Gefängnisse, wovon lediglich die Justizvollzugsanstalt Chemnitz eine reine Frauenhaftanstalt ist. Von insgesamt 3.800 Strafgefangenen sind im gesamten Bundesland ungefähr 260 Frauen inhaftiert.

Wie kann man sich so eine Begleitung vorstellen: Wie läuft die Begegnung zwischen beiden Seiten ab?

Zu Beginn stellen wir den Kontakt mit dem Gefangenen über einen Brief her. Wir stellen uns vor, erklären, dass Besuche möglich sind, und stellen auch klar: Wir Ehrenamtliche gehören nicht zu den Regelinstrumentarien des Strafvollzugswesens. Das bedeutet, dass wir keinerlei Protokolle oder Ähnliches führen und nichts von dem, worüber wir uns unterhalten, zu den Bediensteten der Anstalt durchdringt oder einen Einfluss auf die weitere Haft hat. Ich versuche, einmal im Monat einen Besuchstermin in der Haftanstalt zu erhalten. In manchen Fällen gibt es auch die Möglichkeit, den Strafgefangenen für einige Stunden beim Ausgang zu begleiten, insbesondere wenn die Haftentlassung in absehbare Nähe rückt.

Nutzt die Natur als Ausgleich: Alexander Manders (Foto: privat)

Worüber unterhält man sich bei den Treffen?

Mein Verhältnis zu den Strafgefangenen ist kumpelhaft. Ich versuche, viel Biografiearbeit zu machen: Wie war dein Leben vorher? Was bist du von Beruf? Was hast du für Hobbys? Ich erzähle natürlich auch von mir und meinem Leben. Gleichzeitig reden wir über den Haftalltag. Es kann dabei um vermeintlich Banales gehen: Was er in der Wohngruppe gekocht hat und ob es ihm und den anderen geschmeckt hat. Die Gesprächsthemen unterscheiden sich nicht zwingend von denen mit Personen „draußen“, in Freiheit. Mit einem kann man gut über Bücher reden, der nächste hat eine Passion für Motorräder und Autos und ein anderer interessiert sich für Fußball. Es geht darum, so etwas wie Normalität herzustellen und Abwechslung in den Haftalltag zu bringen. Immerhin gibt es Strafgefangene, die lebenslänglich inhaftiert sind mit anschließender Sicherungsverwahrung. Bei anderen, wenn es dann zur Haftentlassung kommt, kann die ehrenamtliche Arbeit auch ganz praktisch werden, indem man mit den Personen zu einer Wohnungsbesichtigung oder zum Jobcenter geht. Das war bei mir aber noch nicht der Fall.

Sprechen Sie auch über die begangene Straftat oder ist das ein Tabuthema?

Wir reden selten über die Straftat. Manche Häftlinge sprechen ganz offen darüber. Einige möchten das nicht, was wir Ehrenamtliche natürlich akzeptieren. Ich selbst frage nie nach. Ich möchte dem Strafgefangenen nicht das Gefühl geben, dass er mir etwas erzählen muss. Es wird nicht tabuisiert, aber von meiner Seite auch nicht forciert. Denn es kann nicht Hauptaufgabe der Ehrenamtlichen sein, mit dem Gefangenen die Straftat aufzuarbeiten. Dafür gibt es viele professionelle Hauptamtliche: Psycholog*innen, Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, Suchtberater*innen und viele mehr. Ich glaube, es ist wenig hilfreich, wenn noch jemand an dieser Baustelle arbeitet. Warum der Strafgefangene inhaftiert ist, wird uns nicht mitgeteilt. Wir gehen unvoreingenommen auf ihn zu. Wir kennen Rahmendaten, wie den geplanten Entlassungstermin und das Jahr des Haftantritts. Infos, anhand derer man grob abschätzen kann, ob es sich um einen “Eierdieb“ handelt oder ob derjenige schwerere Straftaten auf dem Kerbholz hat.

Was hat Sie für ausgerechnet diese Art von Ehrenamt motiviert?

Es war ein bisschen Neugierde dabei ─ die Möglichkeit, Einblick in eine solche Institution zu gewinnen, hat mich fasziniert. Obwohl die Themen Verbrechen und Gefängnis in den Medien, von Krimis ganz zu schweigen, allgegenwärtig sind, kennt man die Realität nicht. Gleichzeitig dachte ich mir: Gefangene haben keine Lobby. Es gibt wenige Menschen, die sich für sie einsetzen. Um ein bisschen mehr soziale Gerechtigkeit in die Gesellschaft zu tragen, ist das Angebot der Caritas ein guter Weg.

Eine solche ehrenamtliche Tätigkeit kostet sicherlich nicht wenig emotionale Arbeit. Wie werden Sie darin unterstützt?

Einmal im Monat haben wir ein Reflexionstreffen, bei dem Hauptamtliche und Ehrenamtliche zusammenkommen. Letztere sind derzeit ungefähr 15 Personen, eine gut durchmischte Gruppe von Mitte 20 bis über 60 Jahre: Handwerker*innen, Studierende, Sozialarbeiter*innen, Jurist*innen, Pensionär*innen. Wenn man sich für diese ehrenamtliche Tätigkeit interessiert, ist man zunächst eingeladen, den Reflexionstreffen beizuwohnen. Es gibt dabei meist einen fachlichen Input von einer Person, die hauptamtlich im Strafvollzug oder in der Resozialisierung tätig ist: Anstaltsseelsorger*in, Leitung des offenen Vollzugs, Sozialarbeiter*innen aus dem Übergangsmanagement, Wissenschaftler*innen, Mitarbeiter*innen des Jobcenters. Anschließend können wir Ehrenamtlichen von unserer aktuellen Tätigkeit berichten, Rückfragen stellen und einen anderen Blick auf das Geschehen bekommen. Es ist eine Art Teamberatung. Nachdem man an dreien dieser Treffen teilgenommen hat und sich weiterhin vorstellen kann, einen Strafgefangenen zu betreuen, folgt ein Gespräch mit den hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Caritas, die eventuell einen Strafgefangener vermitteln. Ziel ist es, aus dem Ehrenamt eine stetige Sache werden zu lassen und Kontaktabbrüche zu verhindern.

Haben Sie mit der Zeit auch Einblicke in den Gefängnisalltag gewonnen?

Nur bedingt. Der Tag fängt mit der sogenannten Lebendkontrolle an, was von außen betrachtet eine befremdliche Art und Weise ist, „Guten Morgen!“ zu sagen. Dabei kontrolliert ein*e Mitarbeiter*in des Allgemeinen Vollzugsdienstes, ob der Inhaftierte noch am Leben ist. Alles ist durchstrukturiert mit festen Zeiten für Frühstück, Mittag- und Abendessen, Sport, Therapieangebote etc. Wenn die Strafgefangenen die Möglichkeit zu arbeiten haben, wird die erste Tageshälfte durch die Arbeit bestimmt. Das wird gerne angenommen, da sich so Geld dazuverdienen lässt, was die Gefangenen für den Einkauf nutzen können: ein bisschen mehr Tabak, Kaffee oder eine Tafel Schokolade, vielleicht auch mal ein besonderes Duschgel oder eine andere Zahnpasta. Aber Genaues weiß ich nicht. Wir Ehrenamtlichen kommen nicht so weit in die Abläufe des Strafvollzugs hinein. Im Besuchsraum, kurz hinter der Pforte, ist meist Schluss. Nur im Jahre 2014 hatte ich einmal die Möglichkeit, ein Hafthaus der JVA Torgau zu betreten. Dort haben die Inhaftierten ein Theaterstück aufgeführt, zu dessen Vorführung auch die Öffentlichkeit geladen war. Beim Weg durch das Hafthaus prasselten starke Eindrücke auf mich ein: Es roch unangenehm nach Schweiß und Tabak; tätowierte, muskulöse Männer lehnten rauchend an Gitterstäben und starrten apathisch auf die Besucher*innen, die zur Aula geleitet wurden. Es war wie in einem schlechten Film, der jedoch einen kleinen Teil der Wirklichkeit des Haftalltags darstellt. Das Theaterstück stand im krassen Kontrast dazu. Die Strafgefangenen führten „Hamlet“ auf und konnten nach der Vorstellung viel Applaus vom Publikum ernten. Ich glaube, sie haben damals Selbstwirksamkeit erfahren und wieder Hoffnung geschöpft. Auch so etwas kann zum Haftalltag gehören.

Lässt sich aus Ihrer Perspektive sagen, welche die häufigsten Probleme sind, die in der Haft auftreten?

Die Haft an sich! Sie ist sehr weit entfernt von einem normalen Alltag und von dem Ziel des Strafvollzugs, der Resozialisierung. Denn für vieles, was die Gefangenen machen wollen ─ und sei es nur, sich eine Bulette in der Mikrowelle aufzuwärmen ─, müssen sie jemanden fragen. Es kommt vor, dass Haftentlassene, die mehrere Jahre inhaftiert waren und wieder eine eigene Wohnung haben, es im wörtlichen Sinn nicht mehr schaffen, die Tür zu öffnen. Sie stehen minutenlang regungslos vor ihrer Wohnungstür und warten, dass diese aufgeht: weil sie gewohnt sind, dass sie selbst die Türen nicht öffnen können. Eine gewisse erlernte Hilflosigkeit beziehungsweise Unselbständigkeit ist ein großes Problem. Es gibt auch Gefangene, die große Angst vor der Entlassung haben, da sie nicht wissen, wie sie ihr Leben allein gestalten sollen. Und dann gibt es natürlich noch jede Menge Probleme rund um Drogen und Gewalt. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Auch Hoffnung kann zum Haftalltag gehören. – Alexander Manders

Sie erwähnten, dass einige Gefangene während der Haft ihre sozialen Kontakte verlieren. Was sind die Gründe dafür?

Einerseits gibt es eine räumliche Trennung: Wenn ich in Leipzig gewohnt habe und für die Haft ins gut 70 Kilometer entfernte Waldheim muss, ist das für Familienangehörige, die sich kein Auto leisten können, schlecht zu erreichen. Andererseits gibt es auch einen Zusammenhang mit der Straftat: Wenn jemand wegen eines Gewalt- oder Sexualverbrechens inhaftiert ist, dann kommt die Abkehr der Familie von dieser Person häufiger vor – das ist auch durchaus nachvollziehbar. Man will nichts mehr mit dieser Person zu tun haben und deswegen sind die Leute allein.

Auch wenn das zu vermeiden ist: Haben Sie schonmal den Kontakt zu jemandem abgebrochen?

Einmal habe ich den Kontakt abgebrochen, weil der Gefangene schon eine Betreuung vor Ort hatte. Eine Doppelbetreuung hielt ich für nicht sinnvoll. Aktiv über Grenzen nachgedacht habe ich nicht. Ich fühle mich in den Gesprächen nie unwohl. Den Frauen, die ehrenamtlich tätig sind, kann es schon einmal passieren, dass die Strafgefangenen das Ehrenamt mit einer Partnerbörse verwechseln und es zu zweideutigen Anspielungen kommt. Aber das ist zum Glück recht selten der Fall. Die Betreuerinnen werden auch gut darauf vorbereitet und sind meist rhetorisch recht schlagfertig.

Wenn Sie etwas an der Situation in Gefängnissen verändern könnten: Was wäre das?

Der Strafvollzug muss so gestaltet werden, dass die Gefangenen dazu befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Anspruch und Umsetzung gehen hier jedoch teilweise weit auseinander. Es mangelt nicht an Ideen und Konzepten, vieles wird wissenschaftlich begleitet. Auch ein Blick ins Ausland zeigt hier gangbare Wege. Man hat jedoch das Gefühl, dass sich die Politik nicht so wirklich an die Umsetzung rantraut – zu Unrecht, wie ich finde. Es ist wichtig, dass es den Strafvollzug gibt. Es ist richtig, dass Menschen in Teilen ihrer Freiheit beraubt werden, wenn sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Es geht hierbei vordergründig um den Schutz der Bevölkerung vor Verbrechen. Mit dem bloßen Wegsperren von Menschen ist es jedoch nicht getan. Es muss vermehrt darum gehen, ihnen alternative Lebensentwürfe aufzuzeigen und Rückfälle zu vermeiden. Denn eines ist klar: Der Löwenanteil der Gefangenen kommt früher oder später wieder auf freien Fuß.

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