Gemeinsam sind wir stark?
Früher existenziell, heute individuell: Gemeinschaften haben sich im Laufe der Zeit verändert. Dennoch wird es sie immer geben, von der Hacker-Community bis zum Drogenkartell.
„Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson, nur in der Gemeinschaft mit den anderen ist und vermag er viel“, sagte einst der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer. In der Tat ist es eines der wichtigsten Wesensmerkmale des Menschen, soziale Bindungen eingehen zu können. Bereits in den sogenannten Urgesellschaften der Vorgeschichte diente der Zusammenschluss von Individuen mitsamt ihren Stärken und Schwächen zu Jägern, Sammlern und Fischern dem Überleben der ganzen Gruppe.
Das gemeinschaftliche Handeln zieht sich seither durch die Entwicklung unserer Spezies. In der Soziologie wird die Gemeinschaft als Kernelement der Gesellschaft bezeichnet. Dabei kann es sich um eine Familie, einen Freundeskreis oder um einander zunächst fremde Personen handeln, die gleiche oder ähnliche Interessen haben.
„Bei der Gemeinschaft handelt es sich um eine Gruppierung von Menschen, die sich wechselseitig als ihr zugehörig betrachten“, erklärt Soziologe Helmut Thome von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Diese Menschen kommunizieren und interagieren untereinander, dabei zumindest in Teilgruppen in körperlicher Anwesenheit, nicht nur schriftlich oder elektronisch. Diese Gemeinschaft kann ein explizit gemachtes gemeinsames Ziel verfolgen; das Hauptziel kann aber auch in der Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit und des gemeinschaftlichen Austauschs liegen, einschließlich wechselseitiger Hilfe- und Unterstützungsleistungen.“
Gefahren, die verbinden
Zu unterscheiden ist allerdings, ob die Mitglieder einer solchen Gruppe sich aktiv und bewusst für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entschieden haben, oder ob andere Umstände diese festlegt haben. Die Schulpflicht in Deutschland lässt beispielsweise wenig Handlungsspielraum darüber, ob ein Kind Teil einer Klassengemeinschaft wird. Ebenso wenig können nachfolgende Generationen entscheiden, in welche Familie sie hineingeboren werden. „Die Gemeinschaftsbildung kann mit unterschiedlicher Gewichtung auf Ähnlichkeiten beruhen, aber hinsichtlich bestimmter Kompetenzen und körperlicher Eigenschaften, die sich funktional ergänzen und kooperativ nutzen lassen, auch auf Verschiedenheiten“, so Helmut Thome.
Um eine unfreiwillige Gemeinschaft temporärer Art handelt es sich, wenn Menschen durch Naturereignisse oder andere Gefahrensituationen plötzlich eine Bindung eingehen, wie etwa die Insassen eines feststeckenden Fahrstuhls. Der Begriff der Schicksalsgemeinschaft wird inzwischen vermieden, da dieser aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt und bis heute im rechten Sprachgebrauch Verwendung findet.
Eine Gemeinschaftsutopie als Propagandawerkzeug
Gleiches gilt für die Idee der Volksgemeinschaft, die zwar schon im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik geäußert wurde, aber erst unter den Nationalsozialisten ihre ideologische Prägung erfuhr. Der deutsche Philosoph Helmuth Plessner kritisierte in seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ bereits 1924 die sich damals anbahnende Gemeinschaftsutopie. Ausgehend von Ferdinand Tönnies‘ 1887 in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ formuliertem Gegensatz zwischen eben diesen, beschrieb die Volksgemeinschaft des NS-Regimes ein unerreichbares soziales Ideal, das letztlich ein weiteres Propagandamittel zur Festigung ihrer Weltanschauung darstellte.
Ist der Gemeinschaftsbegriff in der Soziologie seither kontaminiert und erst seit einigen Jahren wieder im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Diskurse, haben sich Gemeinschaften in der gesellschaftlichen Praxis erheblich weiterentwickelt. Ihre Formen haben sich vervielfältigt. Während Gemeinschaften in früheren Zeiten tendenziell langlebiger waren und im Sinne der Existenzsicherung einer gewissen Notwendigkeit entsprachen, lassen sich in der Moderne erheblich liberalere Zusammenschlüsse finden.
Gemeinschaft heute: digital und schnelllebig
Unter posttraditionalen Gemeinschaften versteht man Formen der Vergemeinschaftung, die flüchtiger und freiwilliger sind als andere. Sie gehen einher mit dem Prozess der Individualisierung, welche die gesellschaftlichen Verbindlichkeiten, wie sie unter anderem in der Ständeordnung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vorherrschten, abgelöst hat. „In früheren Zeiten waren die Gruppen und ihr Status den Individuen vorgegeben. Die Zugehörigkeit wie auch die Unzugänglichkeit zu den lebensbestimmenden Gemeinschaften waren vor allem durch Geburt und Herkunft festgelegt und ließen nur einen sehr geringen Spielraum für die individuelle Lebensgestaltung“, erklärt Soziologe Thome.
Die Emanzipation des Individuums von diesen begrenzenden Strukturen führt über eine Art Collage der Partizipation zu einer Wiedervergemeinschaftung. Ein Individuum ist nicht mehr Teil einiger weniger Gemeinschaften, sondern deckt seine Interessen mitunter über sogenannte „single purpose communities“ ab – Gemeinschaften, die nur einem einzigen Zweck dienen, wie zum Beispiel ein Fußball-Fanclub. Dank moderner Kommunikationsmittel erfolgt der Zusammenschluss deutlich schneller und einfacher als früher. Im Fall von Online-Communities oder dem Hacker-Kollektiv Anonymous wird sogar der physische Kontakt obsolet.
Andere als Mittel zum Zweck
Wichtig ist laut Thome eine Unterscheidung, die der französische Soziologe Émile Durkheim einführte: die Unterscheidung zwischen kooperativem oder auch moralischem Individualismus und dem egoistischen oder auch exzessiven Individualismus. „Als soziale Praxis gründet sich der moralische Individualismus auf wechselseitige Sympathie und Respekt für den jeweils anderen, der exzessive Individualismus stellt sich als rigorose Verfolgung persönlicher Interessen dar, wobei die Anderen vor allem als Mittel zum eigenen Zweck dienen“, sagt Thome.
Dadurch würden Exklusionsprozesse verstärkt. In der modernen Markt- und Wettbewerbsgesellschaft zähle vor allem der Erfolg im Beruf, Wohlstand und gesellschaftliche Aufmerksamkeit. „Die Chancen der Individualisierung fördern – auf der Verliererseite – die Herausbildung eines regressiven Kollektivismus“, so Thome. „Die Verlierer gründen Gemeinschaften, die sich gegen Andere richten, denen sie sich mit Hilfe welcher Konstruktionen auch immer, zum Beispiel Volksgemeinschaften, überlegen fühlen können.“ So werde das Konzept der an Gruppenzugehörigkeit gebundenen „Ehre“ wiederbelebt – ähnlich wie bei Straßengangs oder Drogenkartellen.