Globale Krisen, globaler Stress
Kriege, Krisen, Klimakrise: Weltweit sind die Menschen gestresst und erschöpft. Wie wir trotz globalem Stress noch in Austausch miteinander über Kulturgrenzen hinwegkommen können.
Egal, ob soziale oder klassische Medien: Welche Nachrichtenseite man auch öffnet, es fallen einem kaum positive Neuigkeiten ins Auge. Vor den derzeitigen Krisen kann man sich nicht verstecken. Nicht abschalten, nicht vor ihnen fliehen, ohne sich vollständig von der Welt zu isolieren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschte der sogenannte Kalte Krieg die öffentliche Wahrnehmung. Mit seinen Freund*innen sprach man damals darüber, dass einem Nuklearwaffen und die militärische Aufrüstung Angst machen. Doch mit zunehmender Globalisierung, der Wiedervereinigung Deutschlands und Frieden in Europa änderte sich die grundsätzliche öffentliche Wahrnehmung. Vorsichtiger Optimismus kehrte ein.
Die momentane Weltlage sieht dagegen wieder pessimistischer aus. Ein verurteilter Rechtspopulist könnte US-Präsident werden und in Deutschland führten Rechtsextreme erst vor wenigen Monate geheime Gespräche, in denen geplant wurde, Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu vertreiben.
Stress schadet der Gesundheit – egal wo und wem
„Stress belastet Menschen weltweit täglich“, sagt die Psychologin und Medizinerin Isabella Heuser. Bis Juli 2023 leitete Heuser die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité am Campus Benjamin Franklin in Berlin. Sie warnt, dass globale Krisen unabsehbare, dramatische Auswirkungen haben können. „Die meisten Menschen, die heute leben, haben solche kriegerischen Auseinandersetzungen noch nie erlebt.“
Noch bevor die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2023 den internationalen Corona-Notstand für beendet erklärte, griff Russland die Ukraine an. Am 24. Februar 2022 kehrte damit das Phänomen des Krieges, das viele nur aus Geschichtsbüchern kannten, in das Bewusstsein vieler Westeuropäer*innen zurück. Nur etwa über tausend Kilometer trennen Berlin und Kyjiw. Der brutale Krieg, er ist ganz nah.
Psychiatrie-Professorin Heuser erklärt, dass die wahrgenommene Belastung durch Krisen schädliche Stoffwechselvorgänge im Körper verursache. Dies führe zu vermehrter Plaquebildung im Herzen und in den Gefäßen, was im Ernstfall Herzinfarkte und Schlaganfälle zur Folge haben könne.
Die Resilienz der Menschen gegenüber Krisen vergleicht Heuser mit einem Füllhorn. In belastenden Zeiten wird das Volumen aufgebraucht, während positive Erlebnisse es wieder auffüllen. „Wenn man atemlos von einer Krise zur nächsten hetzt“, sagt sie, „wird auch bei besonders stressresistenten Menschen irgendwann die Erschöpfung erreicht“. Es bestehe das Risiko, dass die Gesellschaft kollektiv ausgelaugt wird. Man lebe nur noch in seinen Filterblasen und tausche sich nicht mehr aus.
Austausch schafft Lichtblicke
Um diesen Austausch geht es der Initiative Start with a Friend (SwaF). Sie bringt Menschen, die neu in Deutschland sind, und auch solche, die schon länger in Deutschland leben, zusammen. Dazu werden Tandems gebildet und es finden regelmäßige Treffen und Aktionen in Regionalgruppen statt. Bevor zwei Menschen ein Tandem bilden, führen die Organisator*innen kurze Interviews, um herauszufinden, was die potenziellen Tandempartner*innen gerne in ihrer Freizeit machen und was sie beschäftigt, um so ein passendes Match zu ermöglichen.
Serdar Bektas und Marion Stahl kennen sich seit 2023 über SwaF. Während ihrer Treffen gehen sie häufig spazieren oder ernten gemeinsam Erdbeeren. Aus der anfänglichen Begegnung hat sich eine Freundschaft entwickelt. „Es geht ums Alltägliche“, sagt Stahl. Für ihr Beisammensein mit Bektas spielen globale kriegerische Auseinandersetzungen kaum eine Rolle. Stahl sieht jedoch die globalen Kriege als Grund dafür, dass mehr Menschen nach Deutschland flüchten und dadurch verstärkt kultureller Austausch stattfindet. In der SwaF-Gruppe respektiere „jeder den anderen mit seinen Bedürfnissen so, wie der andere es gerade braucht“.
Uta, eine Lehrerin an einer Schule in Nürnberg, hat ihre Tandempartnerin ebenfalls 2023 über SwaF kennengelernt. Die 50-Jährige möchte nicht, dass ihr Nachname öffentlich erwähnt wird. Uta erinnert sich insbesondere an ein Regionaltreffen im letzten Winter, währenddessen sie mit Menschen aus dem Jemen und aus Syrien in Kontakt gekommen ist. „Und das wird einem dann so klar, was diese Konflikte bedeuten.“ Neben medial präsenten Kriegen seien das „Konflikte, die man gar nicht so auf dem Schirm hat“. Dass man als Gesellschaft extrem hilflos sei, löse in ihr Stressgefühle aus. Durch die Anspannung sei ein zusätzliches Stresslevel entstanden, das sich im Hintergrund ständig bemerkbar mache.
Ihre Tandempartnerin Olha Topchii, der Uta auch hilft, Deutsch zu lernen, kommt aus der Ukraine und lebt jetzt in Nürnberg. Die Aktivitäten der SwaF-Gruppe wie Kanufahrten helfen Olha, sich zu entspannen, die eigene Belastung zu mildern. Sie sei durch den Austausch in der Gruppe „ruhiger geworden“ – und viele dieser Aktivitäten würden von der Regionalgruppe bezahlt, damit es sich alle leisten können, teilzunehmen.
Die Tandempartner*innen, berichten übereinstimmend, dass sich in der SwaF-Gruppe eher Menschen engagierten, die grundsätzlich offen für andere Kulturen und neue Kontakte seien. Und dennoch kann Start with a Friend ein Musterbeispiel sein: Für Begegnungen im Kleinen, durch die man mit verschiedenen Lebensrealitäten in Kontakt kommen und seinen eigenen Horizont erweitern kann – also auch durch Kontakt mit solchen Menschen, deren Meinung vielleicht nicht ganz mit der eigenen übereinstimmt. Trotz und gerade wegen Krisen und Kriegen, in der Welt und im Privaten.
„Wir sind uns alle so unglaublich ähnlich. Ein achtjähriges Kind ist ein achtjähriges Kind, egal ob es aus Syrien oder Deutschland kommt“, sagt Uta.