In der Zwischenwelt
Nahtoderfahrungen werfen Fragen auf, die tief in die menschliche Existenz und die Vorstellung einer unsterblichen Seele reichen. Während Betroffene von spirituellen Erlebnissen berichten, bleibt die Wissenschaft skeptisch und sucht nach neurologischen Erklärungen.
Vielleicht ist es die Sehnsucht, in irgendeiner Form weiterzuleben und nicht vergessen zu werden. Vielleicht ist es aber auch ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, ein Erbe der Weisheit alter Philosophen: Die Vorstellung, dass ein Funke unseres Seins den Tod überdauert und jenseits des irdischen Lebens fortbesteht.
Diese Gedanken drängen sich auf, wenn wir uns mit Nahtoderfahrungen auseinandersetzen – jenen Erlebnissen, die uns an die Schwelle zwischen Leben und Tod führen. Studien zufolge kann heute jeder zehnte Patient nach einer lebensbedrohlichen Krise von einer solchen Erfahrung berichten. Nahtoderfahrungen geschehen, wenn Menschen als klinisch tot gelten oder dem Tode nahe sind, etwa bei einem Herzinfarkt. Häufig berichten sie von einem strahlenden Tunnel aus Licht, einem schwerelosen Schweben und manchmal sogar von einem Rückblick auf das eigene Leben. Manche Betroffene sprechen von Begegnungen mit Verstorbenen oder einer göttlichen Präsenz, die sie mit einer unglaublichen Wärme erfüllte.
„Alle Fragen wurden mir beantwortet”
Bernhard Laux aus dem hessischen Bad Nauheim ist einer von ihnen. Vor über 30 Jahren erlebte er selbst eine Nahtoderfahrung. Heute arbeitet der 59-jährige als Bestatter und leitet eine Gesprächsgruppe für Betroffene von lebensverändernden Erfahrungen und Krisen. Bernhard Laux beschreibt seine Nahtoderfahrung als einen Moment, der ihn völlig verändert hat. „In diesem Moment wurde ein Schalter umgelegt”, erzählt er. „Ich konnte mich selbst wahrnehmen. Alle Fragen wurden mir beantwortet.” Er verspürte eine tiefe Gewissheit, so sagt er, dass nichts Schlimmes geschehen könne. „Alles ist richtig und alles ist gut. Alles hat einen Sinn und einen Zweck”.
Ähnlich wie Bernhard Laux berichten viele Menschen, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben, von einer völlig neuen Perspektive auf ihr Leben und eine Art Wissen, das sie vorher nicht hatten. Für manche ist es ein spirituelles Erlebnis, für andere ein tiefer Moment der Erkenntnis – eine Art „Beweis“ dafür, dass ihre Existenz mehr ist als nur ihr physischer Körper – und der ihnen die Angst vor dem Tod nahm.
Wissenschaftlich sind solche Erfahrungen bislang nicht eindeutig erklärbar. Für den Mediziner Birk Engmann sind sie eher ein kulturelles Phänomen. Deshalb lehne er als Facharzt der Neurologie und Psychiatrie in Leipzig den Begriff „Nahtoderfahrung” im wissenschaftlichen Sinne ab. Die Erlebnisse seien durch neurologische und physiologische Prozesse erklärbar, „wenngleich keine ursächliche Herleitung jedes kleinen Details von Erlebnisinhalten zu einem neuropsychologischen Prozess möglich ist, weil sie nicht direkt messbar sind“, erklärt er. Das sei aber in der Neurowissenschaft, der Psychiatrie und der Psychologie nichts Besonderes.
Engmann hebt zudem hervor, dass die Wahrnehmungen während einer Nahtoderfahrung individuellen und kulturellen Prägungen unterliegen und oft Elemente widerspiegeln, die bereits im Bewusstsein verankert sind.
Platons Erbe und die Auffassung der Bibel
Ursprünglich stammt die Idee einer unsterblichen Seele nicht aus der Bibel, wie viele glauben, sondern von antiken griechischen Philosophen. Platon, einer der berühmtesten Denker, stellte die Seele als etwas Eigenständiges dar, das den Körper des Menschen belebt und unsterblich ist. Für ihn bestand die Seele aus drei Teilen, die gemeinsam agierten: Er lokalisierte den Verstand im Gehirn, Gefühle und Mut in der Brust und die Begierden in der Leber. Nach Platon ist der Körper nur durch die Anwesenheit der Seele lebendig. Verlässt die Seele den Körper, lebt sie und mit ihr die Person weiter.
Die Vorstellung der Seele als eigenständiges, ewiges Wesen hat sich über Jahrtausende in Kulturen verwurzelt und fand erst später Eingang ins Christentum. Für viele gläubige Menschen ist sie ein innerer Kompass und moralischer Anker, der hilft, gut zu handeln und die eigene Einzigartigkeit zu erkennen. Der Gedanke an Unsterblichkeit bietet Trost beim Gedanken an den eigenen Tod oder dem Verlust geliebter Menschen.
Die ersten Schriften des Alten Testaments hingegen sprechen nicht von einer „Seele“ als unsterblichem Teil des Menschen, der nach dem Tod den Körper verlässt, auch wenn es in einigen Bibelübersetzungen so zu finden ist. In der hebräischen Ursprache der Bibel steht das Wort „néphesch“. Es bedeutet „atmendes Geschöpf“ und beschreibt das Leben selbst – die Existenz, die mit dem Tod endet. Auch das griechische „psychḗ“ der griechischen Übersetzung verweist mit seiner Übersetzung “lebendes Wesen” auf den lebenden Menschen an sich und nicht auf ein ewiges Prinzip.
Chemisches Phänomen oder reale Erfahrung?
Für Menschen wie Bernhard Laux bleibt die Erfahrung selbst überzeugender als jede kulturelle oder wissenschaftliche Erklärung. Die persönliche Bedeutung und die Tiefe, mit der solche Erlebnisse die Betroffenen berühren, lassen sich schwer als bloßes chemisches Phänomen abtun. Wenn man so etwas erlebe, fühle es sich echt an, sagt er. „Es war eine Erfahrung, keine Erinnerung und kein Traum.”
Was bleibt, ist die Faszination für die Vorstellung, dass unsere Existenz mehr ist als nur unser biologischer Körper. Die Idee von Seele und Unsterblichkeit wird vermutlich auch in Zukunft einen festen Platz in unserem Bewusstsein haben – sei es als tröstliches Sicherheitsgefühl oder als faszinierendes Mysterium. Vielleicht hat Platon es am besten beschrieben, als er sagte: „Der Körper ist nur das Gefängnis der Seele.“ Ein Gedanke, der zum Hoffen einlädt – und zum Nachdenken über das, was uns ausmacht.