Keine Arbeit – kein Thema?
Rekordarbeitslosigkeit in Europa: Hiobsbotschaften von den Arbeitsmärkten unserer Nachbarn erreichen uns fast täglich. In Deutschland hingegen gab es 2014 so wenige Arbeitslose wie seit fast 25 Jahren nicht mehr. Wer hierzulande betroffen ist, möchte trotzdem nicht vergessen werden.
„Ich bin immer wieder erstaunt und überrascht: Unsere Angestellten hier erbringen eine Wahnsinns-Arbeitsleistung. Und das sind Menschen, denen man auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance einräumt“, berichtet Sozialpädagoge Rupert Herzog.
Herzog ist ein Macher, er strahlt Tatkraft und Begeisterung aus. Seit fast zwanzig Jahren setzt er sich für Menschen ein, die aus dem „normalen“ Arbeitsleben ausgeschieden ist: Behinderte, Benachteiligte und Arbeitslose. Arbeit bietet ihnen das Münchener Projekt Abba – die drei letzten Buchstaben stehen für die Zielgruppe – in den Bereichen Verkauf, Garten- und Landschaftspflege sowie Haushaltsauflösung. Leiter Rupert Herzog beschäftigt momentan zwanzig Angestellte.
Typische Arbeitslose
Abba ist einer von 36 Sozialen Betrieben, die zum Münchner Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm gehören. Im Jahresdurchschnitt 2014 waren in München 5,2 Prozent der Erwerbspersonen – also aller, die eine Erwerbstätigkeit ausüben oder danach suchen – ohne Arbeit. Von diesen Zahlen können andere Großstädte nur träumen. In Berlin waren es 2014 11,1 Prozent, in Köln 9,6, Hamburg 7,6 und Frankfurt 7,3 Prozent Arbeitslose. Deutschlandweit lag die Quote bei 6,7.
Aber auch in München zeigt sich eine für ganz Deutschland charakteristische Zusammensetzung der Betroffenen. Fast jeder Zweite von ihnen findet seit mindestens einem Jahr keine Arbeit, ist also langzeitarbeitslos. „Je länger die Arbeitslosigkeit, desto schwieriger ist es, wieder Fuß zu fassen“, sagt Felix Magin, Pressesprecher des Münchner Jobcenters.
Weit über die Hälfte der arbeitslos Gemeldeten hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Beinahe jeder dritte Arbeitslose ist über fünfzig. Besonders schwer auf dem ersten Arbeitsmarkt haben es auch Menschen mit Einschränkungen im weitesten Sinne – psychischer oder physischer Art. „Oftmals haben Arbeitgeber ihnen gegenüber Vorbehalte“, bedauert Jobcenter-Sprecher Magin – und benennt deshalb als Hauptziel für 2015 die Arbeitsvermittlung an Behinderte und Langzeitarbeitslose.
Bunter Fördermix
Der Zweitbuch- und Altwarenladen in München-Trudering ist ein Arbeitsbereich des Projekts Abba. Im lichtdurchfluteten Geschäft reihen sich rechts sieben Regale aneinander. Gebrauchte Bücher sind dort sauber eingeordnet und nach Kategorien sortiert. Zur Linken findet sich eine bunte Mischung aus Geschirr, Besteck, Spielen, Haushaltsgeräten und vielem mehr.
Auf die Angestellte, die gerade ein Kinderbuch an eine junge Mutter verkauft – beide wollen ihren Namen lieber nicht in diesem Artikel lesen – treffen viele Merkmale einer „typischen“ Arbeitssuchenden zu. Sie ist über fünfzig, hat keine abgeschlossene Ausbildung, war einige Jahre arbeitslos und hatte zeitweise psychische Probleme. Dass sie über Abba mittlerweile wieder dreißig Stunden pro Woche und damit regelmäßig beschäftigt ist, macht sie glücklich. „Mir gefällt es hier sehr gut, der Umgang mit alten Sachen liegt mir. Toll ist vor allem, wie sich mein Wissen um Antiquitäten mit jeder Gebrauchtware, die wir hier bekommen, steigert.“
Zu Abba kam die Verkäuferin durch die Vermittlung im Jobcenter, welches sechs der rund zwanzig Projekt-Arbeitsplätze finanziert. Wegen der öffentlichen Förderung sind es Jobs des zweiten Arbeitsmarkts. Ziel ist es, die Betroffenen wieder fit zu machen für den „normalen“, den ersten Arbeitsmarkt. Die Abba-Stellen speisen sich allerdings aus einem bunten Mix an Fördermaßnahmen – gelten Angestellte aufgrund von Faktoren wie Erwerbsunfähigkeit oder Frührente als nicht mehr vermittelbar und zählen nicht als arbeitslos, dann bezahlt zum Beispiel das Integrationsamt statt des Jobcenters.
Jobcenter schafft keine neuen Stellen
Das Jobcenter fördert auch sogenannte „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“, umgangssprachlich bekannt als Ein-Euro-Jobs. Dieser Begriff gefällt Abba-Projektleiter Rupert Herzog gar nicht – schließlich gibt es den symbolischen Stundenlohn ja zusätzlich zur weiterhin gezahlten Arbeitslosen-Unterstützung.
Beratung, Qualifizierung, Stellen auf dem zweiten Arbeitsmarkt und Vermittlung in den ersten: „Die Bemühungen der Jobcenter sind für den Einzelnen sicher hilfreich. Für die Volkswirtschaft im Gesamten bringen sie aber gar nichts – auf die Arbeitslosigkeit an sich haben sie nämlich keine Wirkung“, sagt Ekkehart Schlicht. Der Volkswirtschaftsprofessor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) lehrt mittlerweile nicht mehr, beschäftigt sich aber weiterhin mit aktuellen Fragen des Arbeitsmarkts.
Er meint: Neue Arbeitsplätze kann auch das Jobcenter nicht schaffen. Es muss sich darauf beschränken, Betroffene in bestehende Stellen zu vermitteln. Um nachhaltig etwas an der Arbeitslosigkeit zu verändern, müsse Deutschland investieren. Auch für die Merkmalsstruktur der deutschen Arbeitslosen hat er eine Erklärung: „Natürlich werden immer die Besten ausgesucht.“ Und am Ende der Aufstellung – egal ob hinsichtlich Alter, Qualifikation oder Dauer der Arbeitslosigkeit – bliebe immer jemand übrig, wenn nicht gerade Vollbeschäftigung herrsche.
Zehn Jahre Hartz IV
Obwohl kritisches Bewusstsein für das Problem Arbeitslosigkeit nötig ist, ist auch festzustellen: Seit ein paar Jahren fallen die Arbeitslosenzahlen. Betrachtet man die Wendezeit als gesamtdeutschen Erhebungsbeginn, dann stieg die Arbeitslosenquote ab 1990/91 kontinuierlich. Mit einem kleinen Tal um die Jahrtausendwende steuerte sie auf das Rekordhoch im Jahr 2005 zu – damals kratzte die Zahl der deutschen Arbeitslosen knapp an der Fünf-Millionen-Marke.
Keine drei Millionen Arbeitslosen weist die Statistik im Jahresdurchschnitt 2014 auf – das ist so wenig wie seit 1992 nicht mehr. Gleichzeitig, kritisiert Ekkehart Schlicht von der LMU, sei der Niedriglohnsektor dramatisch gewachsen.
Ob und wie sehr der auf 2005 folgende Rückgang der Arbeitslosigkeit mit einer Reihe von Sozialreformen, die SPD-Kanzler Gerhard Schröder auf den Weg gebracht hatte, zusammenhängt, ist unter Experten umstritten. „Hartz IV“ veranlasste vor zehn Jahren, dass die damaligen Sozial- und Arbeitslosenhilfen zusammengelegt wurden zum Arbeitslosengeld II (ALG II). Die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ ist eine Leistung, auf die jeder Erwerbsfähige und Hilfebedürftige zwischen 15 Jahren und dem Renteneintrittsalter Anspruch hat. Sie finanziert sich aus Steuergeldern und liegt momentan bei einem pauschalen Grundbetrag von 399 Euro. Dazu können etwa Zahlungen für die Miete oder für Sondersituationen wie Schwangerschaft kommen.
Leistungen erhalten aber auch alle, die mit dem Empfänger in einer „Bedarfsgemeinschaft“ leben – also beispielsweise noch nicht erwerbsfähige Kinder. Nicht jeder ALG-II-Bezieher taucht also in der Arbeitslosenstatistik auf. Außerdem bekommen zum Beispiel auch Menschen ALG II, die zwar arbeiten, mit dem Lohn ihren Lebensunterhalt aber nicht ausreichend bestreiten können.
Davon unterscheidet sich das Arbeitslosengeld (ALG). Es wird nur für eine Übergangsfrist nach Meldung des Arbeitsverlusts gewährt. Die Leistung kann auch nur beziehen, wer eine gewisse Zeit in die entsprechende Versicherung einbezahlt hat – finanziert sind die Zahlungen also nicht vom Fiskus. Und auch die Höhe wird individuell verschieden berechnet.
Enormes Potenzial
Zehn Jahre nach Einführung des ALG II zieht die Bundesagentur für Arbeit (BA) eine gemischte Bilanz – benennt Probleme und betont aber vor allem die aus ihrer Sicht wichtigsten Verbesserungen. Heinrich Alt, Mitglied im Vorstand der BA, erklärt etwa in einer Mitteilung vom Dezember vergangenen Jahres: „Früher wurden viele Menschen in der Sozialhilfe nur verwaltet. Noch nie wurde so ernsthaft und spürbar mit den Menschen an ihren Integrationschancen gearbeitet. Dabei geht es auch um das Bewusstsein, gebraucht zu werden und etwas leisten zu können.“
Felix Magin aus dem Münchner Jobcenter betont: „Das Potenzial unserer Leistungsempfänger ist enorm. Diese Menschen wollen nicht nur arbeiten, sie können es auch.“
Rückmeldung tut gut
Ob sie als arbeitslos in der Statistik auftauchen oder als Frührentner herausfallen; ob sie mittels einer Mehraufwandsentschädigungs-Tätigkeit übers Jobcenter kommen oder anderweitig gefördert werden; ob sie ALG II beziehen oder nicht; ob das Ziel eine Rückvermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ist oder die Begleitung in den Ruhestand: Rupert Herzog von Abba weiß, wie gut seinen Angestellten die Beschäftigung tut.
Tagesstrukturen, der soziale Kontakt mit Kollegen und vor allem die positive Rückmeldung der Kunden seien Balsam für jene, die im früheren Arbeitsleben oft negative Erfahrungen gemacht hätten. „Was hier an Anerkennung rüberkommt, ist mit Geld nicht zu bezahlen. Das macht unsere Leute stark, bestätigt und motiviert sie, extreme Leistungen zu bringen.“
Projektleiter Herzog verweist auf die Angestellte im Zweitbuch- und Altwarenladen. Sie berät geschäftig ihre Kunden und denkt anschließend laut nach über die österliche Schaufenster-Dekoration. Im nächsten Moment läuft sie ins Lager, um die gebrauchte Ware zu sortieren. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit verbringt sie nun schon das dritte Jahr in kontinuierlicher Beschäftigung bei Abba.