Klein-Italien in Köln
In der Kölner Südstadt ließen sich Ende der 1960er-Jahre viele Gastarbeiter aus Italien nieder. Carmelo Bennardo ist ein charmanter Sizilianer der alten Schule. Er und seine Familie prägen das Viertel seit 16 Jahren mit ihrem kleinen, aber mittlerweile legendären Café „Formula Uno“ wie sonst kaum jemand in der Gastronomie.
Ein unscheinbares Café im Kölner Zugweg nahe des Chlodwigplatzes mit ein paar Tischen und grünen Stühlen davor. Innen ist es trotz der großen Fensterfront recht dunkel und hölzern bestuhlt. An der Wand im Lokal direkt gegenüber dem Tresen hängt ein überdimensionaler Formel-1-Rennreifen. Um diesen herum: zahlreiche Fotos von Ferraris mit Rahmen in den unterschiedlichsten und grellsten Farben. Viele der Bilder hängen auf eine liebenswürdige Weise schief. Ein Interieur, das auf den ersten Blick an das Zimmer eines pubertierenden Jugendlichen erinnert. Es muss nicht schön sein, aber eine Botschaft vermitteln. Die Botschaft hier lautet: Wir befinden uns auf italienischem Terrain.
Nichts Besonderes – nur chaotisch, laut und lustig
Mittendrin in diesem eigenwilligen Szenario steht der beleibte und kahlköpfige Carmelo Bennardo (54). Er ist umzingelt von Gästen, die Bestellungen aufgeben möchten. Der Formel-1-Fan ist der Sohn italienischer Gastarbeiter. Am 10. März 1968 stieg er im Alter von sechs Jahren am Kölner Hauptbahnhof aus dem Zug, um hier in sein neues Leben zu schlüpfen. Heute ist er eine bekannte Größe in der Stadt. Viele Medien haben schon über ihn berichtet, weil die Stimmung in seinem Lokal bisweilen an Ausnahmezustände grenzt. Nicht nur der Express und der Kölner Stadtanzeiger, sondern sogar das Heute Journal hat ihn einmal in einem Beitrag erwähnt. Und das, obwohl sein Café auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein scheint. Aber es ist etwas Besonderes.
Es klingt erst einmal wie eine erfundene Geschichte, wenn Carmelo Bennardo fast wie ein Rheinländer mit dem klassischen kölschen Singsang erzählt, seine Ehefrau Agata (46) sei in Sizilien von derselben Hebamme zur Welt gebracht worden wie er selbst. Doch kennengelernt hat sich das Paar erst vor 29 Jahren in Köln. Das war der Startschuss für eine verrückte Karriere mit der gesamten „Barista-Familie“ in ihrem kleinen Café, das einer italienischen Familie, wie wir sie uns vorstellen, sehr ähnlich ist: immer ein wenig chaotisch, immer zu laut, aber immer auch lustig und lebensfroh.
Das Ehepaar Carmelo und Agata hat drei Kinder, von denen die Jüngeren, Chantal (22) und Christian (23), im Café mithelfen. „Die sind ja quasi hier aufgewachsen und kennen jeden Gast persönlich“, erklärt Agata. Auch ihr Deutsch ist geprägt vom kölschen Dialekt und der eigensinnigen kölschen Grammatik. „Was darf’s denn sein, Fräulein?“, fragt sie eine Besucherin, die gerade draußen Platz nimmt. Nebst vorzüglichem Kaffee vom Macchiato bis zum Cappuccino serviert die Familie frisches Ciabatta mit original italienischem Mozzarella, Tomaten, Mortadella, Salami oder Pecorino. Ein Gaumenschmaus, der die hungrige Kundschaft glücklich macht.
Keine ordinäre „Kaffebud“
Jetzt handelt es sich bei dem Formula Uno aber nicht um eine ordinäre „Kaffebud“, wie man in Köln sagt. Hier tobt der sprichwörtliche Mob, wenn Fußball-Events anstehen wie die WM, die EM oder aktuell: das Champions-League-Finale in Berlin mit Juventus Turin als Gegner des FC Barcelona. Als bei der WM 2006 der Publikumsandrang zu den übertragenen Spielen bei Carmelo immer größer wurde, musste das Ordnungsamt die gesamte Straße sperren. „Das kostet natürlich auch regelmäßig Strafe, aber die Stadt Köln ist super tolerant“, so Carmelo zu seinen populären und medienwirksamen Public-Viewing-Events. „Auch wenn die italienische Mannschaft 2006 den Traum der Deutschen kaputt gemacht hat“, grinst er frech.
Die Tifosi machen an solchen Abenden aus dem Viertel eine italienische Hochburg: mit Fahnen wedelnd oder eingewickelt in Stoffe mit den Farben der Trikolore, in Trikots, mit Gesichtsbemalung und voller Inbrunst auf die Leinwand starrend oder wahlweise laut schreiend. Da kann der außenstehende Betrachter schon einmal vergessen, wo er sich befindet. Das ist nicht mehr Köln, das ist Klein-Italien. So wird der Stadtteil auch schon seit vielen Jahren liebevoll von seinen Bewohnern genannt, die freundschaftlich mit ihren zugewanderten Nachbarn verkehren.
Italienisch für Anfänger mal anders
Hier braucht niemand einen Italienischkurs an der Volkshochschule. Schon mal gar nicht, wenn Carmelo abends den DJ mimt und Evergreens in seiner Muttersprache spielt, die längst in Vergessenheit geraten sind: Adriano Celentano, Gianna Nannini, Eros Ramazzotti und Milva im Original. So klein das Lokal auch ist: Da fängt der größte Tanzmuffel an, einen Foxtrott mit der Tischnachbarin hinzulegen. Und wenn die nicht mag, dann springt Agata ein, die vorzüglich tanzen kann.
In Köln fühlen sich die Bennardos pudelwohl. „Das hier wird unser Alterswohnsitz“, sagt das Familienoberhaupt. Deutschland habe ihm alles gegeben, was er heute ist. „In meine Heimat nach Sizilien werde ich höchstens für zwei oder drei Monate pro Jahr in den Urlaub fahren, wenn ich in Rente gehe.“ Dort schrumpft die Kernfamilie allerdings auch zusehends, denn die meisten Verwandten von Carmelo und Agata leben ebenfalls seit Jahrzehnten in Köln.
100 Meter Salsiccia
Große Feste wie Weihnachten oder Ostern feiern die Bennardos mit allen Verwandten und Freunden bei sich zu Hause. Wenn ein Gast über die Feiertage allein zu sein droht, packt Carmelo diesen kurzerhand ins Auto und fährt ihn zum Haus seiner Familie. Dort kocht Agata in zwei voll ausgestatteten Küchen ungefähr 100 Meter Salsiccia für 30 oder 40 Gäste, die alle gleichzeitig reden, lachen und an einer langen Tafel speisen. Dabei läuft der Fernseher und eine Opernsängerin trällert vom italienischen Fernsehsender RAI, während die Tochter Chantal bereits zum Aufräumen in die Küche eilt und eine ABBA-CD einlegt, zu der alle plötzlich wild tanzen. Deshalb muss jeder lauter sprechen, um überhaupt noch verstanden zu werden. Auch weil alle meistens gleichzeitig reden.
Beschweren, ignorieren und flirten
Zurück im Formula Uno. Nachbar und Stammgast Max beschwert sich wie immer über den Rotwein – und trinkt ihn trotzdem. Seine Beschwerde wird so oder so ignoriert. Pasquale (ca. 85) wurde von der Familie Bennardo quasi adoptiert und verbringt einen Großteil seines Lebens in dem Lokal, von morgens bis abends. Dabei flirtet er routiniert mit den weiblichen Gästen, wie es sich für einen echten Italiener gehört. Ein anderer Gast bedankt sich bei Carmelo, nachdem er gezahlt hat. „Es ist schön, dass ich jetzt schon im Mai auf der Herrentoilette mit einem Plakat auf Weiberfastnacht aufmerksam gemacht werde.“ Weiberfastnacht im kommenden Jahr, wohlgemerkt. „Wir machen jetzt langefristige Werbung“, antwortet Carmelo scherzhaft. „Das iste billiger.“
Und was wünscht sich die Familie von Deutschland? „Eigentlich gar nichts“, sagt Carmelo überzeugend. „Wir sind hier sehr glücklich. Nur vielleicht, dass ich meinen Café-to-Go mit 7 Prozent Mehrwertsteuer verkaufen kann, statt mit 19 Prozent“, sagt der Gastronom, wobei er to go ausspricht wie das afrikanische Land Togo. Und plötzlich klingt er eher nach deutscher Genauigkeit, obwohl sich im Umkreis des Formula Uno die südländische Mentalität in der Luft verbreitet wie ein Virus. Ein aufgemotzter Fiat hält vor dem Café und hupt. Der Fahrer winkt, alle rufen von ihren Sitzplätzen irgendetwas in italienischer Landessprache, bis weitere Autos hupen und passieren wollen.
Ja, so ist die Familie Bennardo und so ist auch ihr Café: immer ein wenig chaotisch, immer ein wenig zu laut, aber immer auch lustig und lebensfroh. Aber ohne diese Italiener wäre das Leben in der Kölner Südstadt viel leiser, weniger lustig und im schlimmsten Fall trist.