Konsumierst du oder wirst du konsumiert?
Man kauft etwas, das man sich schon lange gewünscht hat, und fühlt sich glücklich. Auch spontane Käufe können dieses Glücksgefühl auslösen. Doch was, wenn man die Kontrolle über sein Kaufverhalten verliert? Wo hört Konsum auf und fängt Kaufsucht an? Eine Psychologin erklärt.
Eine offizielle Diagnose „Kaufsucht“ gibt es nicht. Eher fällt das Süchtigsein nach dem Kaufen unter eine laut Fachjargon „abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle“. Es handelt sich hierbei um keine „substanzungebundene Abhängigkeit“, sondern eine Sucht nach etwas, das man sich nicht einverleibt, wie bei einer Alkohol- oder Drogensucht. Bei der Kaufsucht befriedigt allein schon der Akt selbst. Man möchte dieses Gefühl darum immer wieder wiederholen, gelangt im Zweifel in eine Art Rausch und verliert schließlich die Kontrolle – oft innerhalb von kürzester Zeit. In vielen Fällen folgen daraufhin zusätzliche Probleme: Schulden, soziale Konflikte und auch Kontrollverlust über andere Lebensbereiche. Schätzungen zufolge sind aktuell 600.000 bis 800.000 Erwachsene in Deutschland von einer „Kaufsucht“ betroffen, genauso viele sind gefährdet. Doch was ist der Grund für diese Sucht?
Konsumieren, um zu kompensieren
„Oft ist es so, dass man mit dem Kaufen ein unangenehmes Gefühl kompensieren möchte“, erklärt Urooba Aslam, die als junge klinische Psychologin in einer Tagesklinik für Suchtpatienten arbeitet und auch auf Instagram über Sucht und mentale Gesundheit aufklärt. „Beim Kauf werden immer wieder Glückshormone, zum Beispiel Dopamin, ausgeschüttet, die dafür sorgen, dass man sich gut fühlt. Dieses Gefühl hält aber nur sehr kurze Zeit an.“
Was damit aufgewogen oder ausgeblendet wird, ist laut Aslam von Fall zu Fall unterschiedlich: Manche kompensierten mit dem Kauf ihre Anspannung, Unruhe, Einsamkeit, Unzufriedenheit, Depression oder konkreten Ängste. Dessen seien die Betroffenen sich anfangs oft nicht einmal bewusst. „Erst später, wenn der Leidensdruck offenkundig ist, kann man die Sucht oder Störung diagnostizieren“, so Aslam. „Dieser wird leider oft durch externe Faktoren hervorgerufen oder etwa durch Schulden verstärkt, die sich anhäufen, oder auch, dass sich der Partner oder wichtige Menschen von einem trennen, weil sie mit der Situation nicht mehr klarkommen.“
Eine direkte Ursache der „Kaufsucht“ lasse sich nicht ausmachen. „Das ist immer ganz individuell“, erzählt Aslam. „Ein Grund kann sein, dass man nie gelernt hat, wie man mit unangenehmen Gefühlen umgehen muss. Gerade Jungs bekommen ja auch heute noch oft gesagt, dass sie nicht weinen dürfen oder es mit negativen Folgen verknüpft ist, wenn man Emotionen zeigt. Dadurch entsteht eine falsche Kopplung im Gehirn.“ Zurückzuführen sei dies auf eine Fehlsteuerung des Belohnungssystems. So könne die Sucht durch den Versuch ausgelöst werden, ein geringes Selbstwertgefühl zu bewältigen.
Digitales Einkaufen senke die Kaufschwelle noch weiter, meint Urooba Aslam. „Es findet in diesem Bereich ja sogar ein zweifacher Glücksmoment statt: Die erste Welle an Glückshormonen durch den Klick auf den „Kaufen“-Button und die zweite Welle, wenn das Produkt ankommt. In diesem Moment ist das Produkt ja sogar schon bezahlt. Schuldgefühle und rationales Denken stehen – zumindest anfänglich – im Hintergrund, man handelt emotional und impulsiv.“ Das Gehirn lerne dann, diese Ausschüttung von Glückshormonen mit dem Gedanken zu verknüpfen, dass ein erneuter Kauf diesen Zustand rekreiere. Dass dies nur kurzzeitig geschieht, sei den Betroffenen in diesem Moment oft nicht bewusst.
Konsumverhalten kontrollieren
Einer von Aslams Patienten war nach nicht greifbaren Produkten betroffen: Er tauchte in die Welt des Online-Gamings ab und entwickelte eine Abhängigkeit für den Kauf von Features und Ausstattungen, die seine „persönliche“ Online-Figur in einem Spiel verbessern sollte. Die Folge: Nach kurzer Zeit summierten sich seine Schulden auf 20.000 Euro. Wie kommt man aus so einem Dilemma wieder heraus?
„Diese Erkrankung ist sehr gut therapierbar“, berichtet die Psychologin überzeugt. „Man muss zwar bereit sein, an sich zu arbeiten. Aber sowohl die kognitive Verhaltenstherapie als auch Gruppentherapien oder Selbsthilfegruppen, die es überall in Deutschland gibt, haben schon gute Erfolge gezeigt. Besonders herausfordernd kann es sein, dass man Einkaufen ja für das Leben braucht. Die Balance zu finden, welches Produkt nötig ist und welches nicht, ist anfangs schwierig – aber definitiv nicht unmöglich!“
Vermuten kann man, dass sich hier Abhilfe etwa durch Ablenkung schaffen lässt. Aslam zufolge aber spiele vor allem Achtsamkeit eine sehr große Rolle. Seine eigenen Verhaltensweisen zu hinterfragen, helfe dabei, sich selbst besser kennenzulernen und langfristig zu erkennen, „ob man einen Kauf tätigt, weil es einem gut tut oder weil man damit ein unangenehmes Gefühl kompensieren oder vermeiden möchte“.
Aktive Selbsthilfe, das zeigen Untersuchungen, sollte am besten auch in diesen Fällen durch Unterstützung von außen verstärkt werden. So kann man sich Rat bei Expert:innen holen: Hausärzt:innen, Psycholog:innen oder Seelsorger:innen. „Man muss damit nicht allein klarkommen“, ermutigt Aslam.
Tolles Interview über ein Thema, das wohl sehr viele Menschen betrifft und noch zu selten Beachtung findet.
Brandaktuelles Thema leider, darüber sollte man öfters Gedanken machen..
Sehr wichtiges Thema. Gut ausgeführt und sehr schön die Probleme aufgezeigt. Sollte man für sich was in der Zukunft daraus ziehen.
Positive Kommentare freuen uns. Danke! Was aber seht ihr kritisch – thematisch und auch beitragsbezogen? Sollten wir bei einem solchen Thema eher ein Streitgespräch ermöglichen? Hier z.B. mit VertretInnen der Werbeindustrie. Was meint ihr?
Solch einen Artikel habe ich schon lange gesucht. Endlich jemand, der dieses Thema professionell behandelt. Hin und wieder ertappe ich mich sogar selbst, wie ich die angesprochenen Symptome bei mir erkenne, zb. Kauf von Artikeln in Videospielen, kann dann aber differenziert auf den Kauf schauen, so dass ich mich nicht im Kaufwahn verliere.