Künftig von gestern?
Stundenlang im Auto ohne Klimaanlage auf dem Weg in den Familienurlaub! Heute kommen mir solche Kindheitserinnerungen vor, wie aus der Zeit gefallen. Eine Flugreise pro Jahr ist kein Luxus mehr, sondern selbstverständlich. Müssen wir uns davon verabschieden? Und: Können wir das überhaupt?
Als ich ein kleines Kind war, ist meine Familie einmal im Jahr nach Frankreich gefahren – an die Atlantikküste, bei Bordeaux. Ich erinnere mich an den Bäckerwagen mit den leckeren Croissants, den Duft von Pinienwäldern und an die Unmengen von gruseligen Schlangen, die sich auf dem Radweg zum Strand sonnten. Vor allem aber erinnere ich mich an die fünfzehnstündige Fahrt im vollgepackten Auto, mit Fahrradträger auf dem Dach und ohne Klimaanlage. Das war unser Sommerurlaub – fünfzehn Stunden im Auto bei brütender Hitze (hin und zurück!) für zehn Tage Urlaub am Meer.
Das ist nicht allzu lange her. Ich bin Jahrgang 1992. Nachdem ich – guter Baden-Württemberger, der ich bin – im Jahr 2010 mit 18 Jahren meinen Führerschein gemacht hatte, bin ich noch zwei Jahre mit Landkarten gefahren, ehe Navis ein Ding wurden. Smartphones waren damals kaum verbreitet. Also, viel Verzicht? Keinesfalls.
Vergangenheit voll Verzicht?
Heute kommen mir meine Erinnerungen vor, wie aus der Zeit gefallen. So, wie für mich Erzählungen vom Schallplattenladen mit den neuesten Hits aus den 1970ern immer nur fremde Erzählungen blieben, oder für meine Eltern die Geschichten aus der Kindheit meiner Oma vom Süßigkeitenladen im Kolonialwarenstil.
Heute haben wir ein anderes Verständnis davon, was selbstverständlich ist. Insbesondere beim Thema Urlaub. Auch meine Eltern fliegen ein-, zweimal im Jahr nach Italien, Griechenland oder in die Türkei – anderthalb bis vier Stunden Direktflug, für ein Wochenende oder eine Woche. Im Jahr 2019 sind über fünf Millionen Deutsche nach Mallorca geflogen. Und für viele junge Leute scheint es normal zu sein, nach der Schule erstmal ein halbes Jahr in Lateinamerika, Afrika, Südostasien oder Australien zu verbringen. Auf bekannten Dating-Apps zeigt zumindest jedes zweite Profil Fotos von exotischen Orten.
Alles überall verfügbar
Ob Reisen, Smartphones, Klimaanlagen oder die für mich besonders faszinierende Obstwelt: Mangos, Alkawas, Lychees, Atemoyas, Kakis, Chayoten… die Verfügbarkeit von Luxus bedeutet, dass heute theoretisch jeder alles haben kann. Naja, leider nicht ganz. Aber zumindest in Deutschland die allermeisten.
Das ist einerseits super – nie hatten wir so viel Freiheit zu probieren und zu konsumieren, was und wo es uns gefällt. Doch es ist auch problematisch. Denn dieser Konsum hat nicht nur einen Preis, sondern genau genommen: vier Preise.
Preisschilder verdecken wahre Kosten
Der erste Preis bezieht sich auf das Preisschild von Produkt oder Dienstleistung: Für 21€ bekomme ich einen Flug von Berlin nach Mallorca. Für 0,99€ bekomme ich im Supermarkt eine Avocado. Ab 72€ ein neues Smartphone. Wenn ich als kinderloser Single zum gesetzlichen Mindestlohn arbeite, bleiben mir bei einer 40-Stunden-Woche 1.179€ netto, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Davon gehen aus eigener Erfahrung in einer teureren Stadt an die 1000€ für Miete, Essen und allgemeinen Grundbedarf drauf. In anderen Städten bei der Miete auch weniger. Da bleibt schon noch etwas Raum für Luxus. Klar, ich kaufe – selbst, wenn ich könnte – nicht jeden Monat ein neues Smartphone. Aber alle zwei bis drei Jahre halt dann doch.
Der zweite Preis sind die verbrauchten Ressourcen. Günstige Preise leben davon, dass wir für Rohstoffe vergleichsweise wenig Geld bezahlen müssen. Sei es nun Erdöl, das zu Kerosin verarbeitet wird, oder Platin, das im Smartphone landet. (Im eigentlichen Gerät zwar zu geringen Teilen, im Fördervolumen aber in hohen Mengen.) Diese Rohstoffe ziehen wir mit neuesten Technologien eifrig aus den Böden und Wäldern dieser Welt. Den Preis dafür zahlt niemand alleine, sondern alle. Weil selbst für das moralisch agierende Europa in den ärmeren Ländern dieser Welt Umwelt- und Klimaschutz nur eine untergeordnete Rolle spielen. Für Regierungen vor Ort bedeutet das eine willkommene Kooperationsbasis: Ohne Investitionen ist es schwierig, Hunger, mangelnde Bildung, Arbeitslosigkeit oder daraus resultierende Gewalt in den Griff zu bekommen. Dagegen wirkt ein gerodeter Wald oder verheiztes Erdöl für die internationale Zusammenarbeit ziemlich harmlos.
Konsum basiert nicht auf Vernunft – sollte er aber
Der dritte Preis ist die Normalität. Wenn in Europa selbst Teenager auf Weltreise gehen, warum sollte die lateinamerikanische Mittelschicht, die Betreiberin eines kleinen Familienunternehmens in Südostasien oder der Büroarbeiter in Subsahara-Afrika das nicht auch dürfen? Paris, Rom, L.A., Tokio – die Romantisierung großer Metropolen kennen wir alle. Die Reise an exotische Orte war schon immer Motiv verschiedenster Romane und Filme. Der neue Lifestyle, das Smartphone-Travel-Lychee-Leben, das alles kam in den letzten zwanzig Jahren als Selbstverständlichkeit hinzu. Jetzt, wo in andere Teilen der Welt mehr Wohlstand – oder das Wissen darüber – gelangt ist, wollen daran natürlich auch mehr Menschen teilhaben. Bloß ist es unwahrscheinlich, dass unser Planet diese Menge an Konsumenten überstehen wird, wenn Preisschilder die Kosten für Klima und Umwelt weiter ausblenden. Immer mehr Menschen wollen fliegen, kaufen, ebenso leben, wie die Menschen in den bisherigen Industrienationen es vorgelebt haben. Das kann nicht funktionieren. Man müsste weniger konsumieren. Wir müssten weniger konsumieren.
Der vierte und ultimative Preis kann zwei Gesichter haben. Einerseits: Schreckensszenarien durch ein gekipptes Klima inklusive gefluteter Küsten, Flüchtlingsströme, Verteilungskriege. Andererseits: ein Abschied vom Extremkonsum. Keine alljährlichen Flugreisen mehr. Äpfel statt Kakis. Vielleicht einmal im Jahrzehnt ein Urlaub auf Hawaii. Eigentlich müssten wir heute damit anfangen und froh sein, wenn der Rest der Welt aus Vernunft akzeptiert, dass einige Industrienationen ein paar Jahrzehnte Spaß auf Kosten der Allgemeinheit hatten und jetzt für alle Schluss ist. Aber wer will das schon? Also zahlen wir weiter die ersten drei Preise und ignorieren, wie der vierte immer weiter steigt. Weil es für uns heute unzumutbar scheint, so Urlaub zu machen, wie es vor 15 Jahren noch alle glücklich gemacht hat.
P.S.: Alkawas gibt es gar nicht, die habe ich erfunden. Aber wer würde heutzutage daran zweifeln, dass es irgendeinen exotisch klingenden Namen nicht als Obst in Deutschland erhältlich gibt? Eben.