Like… seriously?!
Im Pressekodex steht: Journalisten sind der Wahrheit verpflichtet. Und zwar schon immer. Selten war jedoch die Diskussion über das, was Wahrheit sein soll, so hitzig wie jetzt.
Schockmoment! Familiendrama! Super-GAU! Nicht selten schmücken Medien Ereignisse emotional aus, um die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen. Deshalb war es schon immer wichtig, ein kritisches Auge auf die Berichterstattung zu werfen. In jüngster Zeit werden die Urteile selbsternannter Medienkritiker jedoch zunehmend pauschaler.
Schlagwörter wie Systemmedien, Meinungsmacher oder Lügenpresse sind in Diskussionen immer häufiger zu hören. Einst größtenteils von Vertretern des rechten Lagers benutzt, gelangen sie mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft. In den Kommentarbereichen sozialer Netzwerke entsteht der Eindruck, Medien seien ein nicht mehr ernstzunehmendes, ausschließlich von der Politik kontrolliertes Organ, das über alles Mögliche berichtet – nur nicht über die Wahrheit.
„Neue Aufklärer“ im Einsatz
Man muss nicht lange suchen, um auf Missmut, Beleidigungen und Unterstellungen zu stoßen. Die Kritiker sind alles andere als schreibfaul und geben sich ausgiebig ihrer Unzufriedenheit hin. „Astroturfing“ wird das Phänomen genannt, wenn Minderheitenmeinungen durch ihre konstante Verbreitung „lauter“ oder „sichtbarer“ und damit bedeutsamer wahrgenommen werden als sie sind. Es erschwert die Analyse der öffentlichen Meinung ungeheuer.
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel des Wutbürgertums ist die Facebook-Seite „Anonymous Kollektiv“. Sie verbreitete unter ihren zwei Millionen Fans regelmäßig Meldungen, die Fremdenhass und Angst schürten und heftig gegen die etablierten Medien wetterten. Im Mai 2016 löschte Facebook die Seite. Als Grund dafür erkennen die ehemaligen Seitenbetreiber in der „von Lügen zehrenden Systempresse“.
Informieren im „postfaktischen Zeitalter“
Es ist aber nicht nur „der kleine Mann“, der sich von der „Lügenpresse“ abkehren will: Dieter Mateschitz, Mitgründer von Red Bull, plant eine eigene Online-Rechercheplattform zu etablieren. „Quo Vadis Veritas“ soll all denen eine Stimme geben, die sich der Wahrheit verschrieben haben.
Emotionale Übertreibungen hält Mateschitz für legitim, um Nachrichtenkonsumenten Sachverhalte näher zu bringen.
Auf vermeintlicher Wahrheitssuche sind auch die Söhne Mannheims mit ihrem Song „Marionetten“. Darin bezeichnet die Band Politiker als „Volksverräter“, die sich nicht wundern müssten, wenn sie „der wütende Bauer mit der Forke“ zur Einsicht zwingt. Die Fans? Applaudieren dazu. Und ärgern sich über die deutliche Kulturkritik, die sie als persönlichen Angriff auf sich selbst wahrnehmen.
Wer sich dabei an US-Präsident Donald Trump erinnert fühlt, liegt richtig. In seinem Bestseller „The Art of the Deal“ stellt er wahrheitsgemäße Übertreibungen als eine zugleich unschuldige und wirksame Form des Marketings dar. „Truthful Hyperbole“ ist in den USA bereits zum geflügelten Wort geworden. Diese Art der Informationsverbreitung ist auch in Deutschland im gesellschaftlichen Diskurs angekommen – spätestens seit Merkels Aussage, wir lebten in postfaktischen Zeiten.
Mehr Klicks für „Fake News“
In ihrer Rolle als „Gatekeeper“ legen Journalisten fest, welche Themen an die Öffentlichkeit gelangen und somit den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen. Die sozialen Medien schwächen diese Funktion erheblich, da mittlerweile jeder Internetnutzer ungefiltert Meldungen und Meinungen verbreiten kann – egal, ob wahr oder falsch.
In Deutschland sind sogenannte Hybrid-Fakes weit verbreitet: Sie bilden zwar eine Tatsache ab, verzerren diese aber durch die Auslassung bestimmter Details oder bewusste Überspitzung in bislang unüblichem Maße. Auf diese Weise werden künstliche Zusammenhänge erzeugt und Emotionen aufgebaut, so die österreichische Non-Profit-Organisation Mimikama, die Falschmeldungen im Internet nachgeht.
Fake News existieren, um damit Profit zu machen. Denn was unglaublich klingt, erhält Klicks. Ein Beispiel dafür ist „Hot Global News“, eine vermeintliche Nachrichtenseite, die regelmäßig Falschmeldungen verbreitet hat. Die Betreiber, zwei kanadische Jugendliche, verdienten durch Klicks, Likes und Shares umgerechnet mehrere tausend Euro pro Monat. Dass sie aber zugleich rassistische Vorurteile befeuerten und wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung ausübten, war ihnen zunächst nicht bewusst.
Raus aus der Filterblase!
Mit dem Finger auf andere zu zeigen, wäre jedoch zu kurz gegriffen, schließlich leben wir alle in unserer eigenen Filterblase: Der Algorithmus sozialer Netzwerke bestätigt die eigene Weltanschauung, indem uns nur selten Meldungen „andersdenkender“ Menschen angezeigt werden. So entstehen virtuelle Räume, in denen immer wieder die eigene Meinung bestätigt wird.
Das ist Gift für einen tiefgründigen gesellschaftlichen Diskurs. Der individuelle Geist verkümmert und tritt sprichwörtlich auf der Stelle, wenn er sich nicht regelmäßig mit gegensätzlichen Meinungen auseinandersetzt. Auf der Suche nach Wahrheit können deshalb vielleicht folgende Appelle helfen: Konsumenten müssen in der Lage sein, tendenziöse Inhalte aufzuspüren und kritisch zu hinterfragen – ohne zu pauschalisieren. Journalisten sollten sich gegenseitig mehr denn je auf die Finger schauen, um verbindliche Qualitätsstandards einzuhalten, und ihre Meinungen deutlich als solche kennzeichnen. Denn nicht zuletzt George Orwell wusste: Journalim is printing what someone else does not want printed – everything else is public relations.
Alle müssen akzeptieren, dass Dinge passieren, die nicht in das eigene Weltbild passen. Also: Raus aus der Filterblase!