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Lüg mich (nicht) an

Von Patricia Kutsch / 12. Mai 2017
picture alliance / ROPI | Antonio Pisacreta

Wir fordern die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Wir wollen nicht von Freunden, Bekannten, Politikern belogen werden. Schließlich sind wir mündige, erwachsene Menschen. Doch seien wir mal ehrlich: Wollen wir wirklich immer die Wahrheit wissen?

Du kommst stolz mit einem neuen Haarschnitt vom Friseur. Soll dein Partner dir wirklich sagen, dass ihm die Frisur gar nicht gefällt? Geheimdienste verhindern, völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit, einen schlimmen Terroranschlag – vielleicht sogar dort, wo du lebst. Möchtest du tatsächlich davon wissen und dich in deinem Sicherheitsempfinden beunruhigen lassen? Eine Frau erwacht nach einem Autounfall aus dem Koma, sie schwebt in Lebensgefahr, fragt nach ihrem Kind. Soll der Arzt ihr in dieser Situation sagen, dass ihr Kind es nicht geschafft hat und ihr so vermutlich den Lebensmut rauben?

Diese Beispiele zeigen: Es ist nicht immer so einfach mit der Wahrheit. Wer sie verschweigt, Ausflüchte findet oder bewusst lügt, gilt zurecht als Lügner. Oder?

Theoretisch gibt es nur Schwarz und Weiß, Lüge und Wahrheit. In der gesellschaftlichen Meinung sind Lügen nicht akzeptabel. Der Begriff „Lügner“ ist eine Beschimpfung. Lügner mag keiner, ihnen traut niemand. Dabei sind wir alle welche.

Wissenschaftler sagen, wir lügen jeden Tag bis zu 200 Mal, auch wenn wir es oftmals nicht bemerken und schon gar nicht böse meinen, etwa wenn wir unsere Liebsten nicht verletzen oder unsere Mitmenschen schützen wollen. Lügen gehören zum Leben dazu, sie sind alltäglich.

Genau genommen sind Lügen gesellschaftlich also doch akzeptiert, werden sogar – unbewusst – erwartet. Wären wir ausnahmslos ehrlich und würden die Wahrheit – ein an sich schon subjektives Konstrukt – sagen, dann würden unsere sozialen Kontakte darunter leiden. Manchmal wollen wir belogen werden. „Lügen sind der Schmierstoff der Kommunikation. Die Menschen wollen oftmals nicht die Wahrheit hören, sondern etwas, mit dem sie sich gut fühlen“, sagte der Psychologe Robert Feldmann der ZEIT.

Andere Kulturen, andere Wahrheitsbegriffe

Asiaten sind kulturell etwas ehrlicher zu sich selbst als wir Europäer und akzeptieren die Tatsache, dass sie einander manchmal nicht die Wahrheit sagen. „Andere Kulturen definieren Lügen anders. Zum Beispiel haben fernöstliche Kulturen ein großzügigeres Verständnis von Wahrheit“, erklärt Feldmann. „Das eigene Gesicht zu wahren und andere nicht in Verlegenheit zu bringen, ist sehr wichtig in Asien. Beispielsweise, ist es dort völlig in Ordnung, die eigenen Leistungen herunterzuspielen – über sie zu lügen, in unserem Verständnis.“ Es gilt also nicht gleich als Lüge, wenn man nicht ganz wahrheitsgemäß antwortet.

Wir lügen jeden Tag bis zu 200 Mal

Die Anglophonen unterscheiden sogar in ihrem Sprachgebrauch zwischen verschiedenen Arten von Lügen. Die „White Lies“ sind gute, verzeihbare Lügen. Man sagt die Wahrheit aus guten Gründen nicht. Schlimm sind die „Black Lies“, die nur dem eigenen Vorteil dienen und deshalb verpönt sind.

Diese Definition ist jedoch nicht ganz eindeutig. Kleinere Mauscheleien bei der Steuererklärung dienen zwar nur dem eigenen Vorteil, sind aber irgendwie doch verzeihbar. Sind sie also White oder Black Lies?

Lügen will gelernt sein

Wir wollen nicht immer die Wahrheit wissen, vor allem, wenn sie uns verletzen könnte. Und wir wollen selbst nicht immer die Wahrheit sagen – sei es, um andere nicht zu verletzen, um uns selbst besser darzustellen, ein gutes Geschäft abzuschließen, einen tollen Job zu bekommen. Im Prinzip selektiert jeder für sich, wann er die Wahrheit wissen oder sagen will und wann nicht. Das passt dann manchmal nicht mit dem zusammen, was unser Gegenüber will.

Wenn mein Partner meine Frisur lobt, obwohl er sie nicht mag, und ich auch nur ein Lob hören will, gibt es keine Konflikte. In dem Fall kann ich kurzfristig vielleicht besser mit einer kleinen Lüge meines Partners leben. Politiker hingegen sollen mich gefälligst nicht anlügen, um besser dazustehen. Das Finanzamt möchte unsere tatsächlichen Einkünfte wissen – da wollen wir aber lieber ein bisschen lügen.

Es knirscht also dann zwischen Sender und Empfänger, sobald eine Seite wirklich an der Wahrheit (oder eben nur an der Lüge) interessiert ist. Uns interessiert die Wahrheit in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens nicht so richtig, solange wir das hören, was uns gefällt, was uns gut tut und was in unser Weltbild passt.

Das Lügen ist somit eine Art Überlebensmechanismus, den wir uns antrainieren. US-amerikanische Wissenschaftler haben festgestellt, dass Kinder vor Gericht fast immer die Wahrheit sagen – selbst wenn die Eltern die Beschuldigten sind und den Kindern vorher Lügen eingeschärft haben. Wir lernen also mit der Zeit, es mit der Wahrheit nicht so ernst zu nehmen, wenn wir uns damit einen Vorteil verschaffen können.

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