Mehr als ein Wunder
Als musikalisches „Wunderkind“ gilt, wer vor dem zehnten Geburtstag auf dem Niveau eines professionellen Erwachsenen spielen kann. Doch bloßes Talent allein macht noch kein „Wunderkind“. Warum die richtige Förderung so entscheidend ist und der Superlativ auch heute noch zur Bürde wird.
Mit dreieinhalb Jahren sitzt er zum ersten Mal am Klavier, mit viereinhalb gibt er sein erstes Konzert: Maddox Marsollek ist ein musikalisches Ausnahmetalent. Mehr als 120 nationale und internationale Preise hat der heute Neunjährige bereits gewonnen, heißt es auf seiner Website. Kinder, die wie Maddox vor dem zehnten Geburtstag auf dem Niveau eines professionellen Erwachsenen spielen können, nennt man darum auch musikalische „Wunderkinder“. Im Vergleich zum Rest der Bevölkerung haben sie eine außergewöhnliche Begabung, Musik zu verstehen, zu spielen oder sogar zu komponieren.
Eines der bis heute bekanntesten „Wunderkinder“ ist Wolfgang Amadeus Mozart: Mit fünf schreibt er seine ersten Klavierkompositionen, mit sieben schickt ihn sein Vater auf Tournee und vermarktet ihn als „Wunder“. Zu Mozarts Lebzeiten, Mitte des 18. Jahrhunderts, galt die außergewöhnliche Begabung eines Kindes noch als „göttliches“ Geschenk. Kein Wunder also, dass in dieser Zeit ein regelrechter Boom um „Wunderkinder“ ausbrach, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts große Namen wie Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin und Franz Liszt hervorbrachte.
Was macht ein Kind zum „Wunderkind“?
Auch heute faszinieren uns Kinder, die Herausragendes leisten. Dank wissenschaftlicher Studien aus der Begabungsforschung und Psychologie ist mittlerweile bekannt, dass bloßes Talent nicht reicht, damit Talent zum „Wunder“ wird. Laut dem amerikanischen Entwicklungsforscher David Henry Feldman braucht es neben einer natürlichen Begabung Disziplin, Ausdauer und Konzentration. Denn selbst das talentierteste Kind müsse gezielt trainieren, um musikalische Hochleistungen erbringen zu können.
Ob und wie ein Kind gefördert wird, das hängt in erster Linie von seinem Umfeld ab: „Das Kind kann alle Talente der Welt haben, in der falschen Familie, unter falschen Umständen, mit den falschen Lehrern verkümmern sie“, so Feldmann.
In der Regel erkenne der Lehrer bzw. die Lehrerin oder ein Jurymitglied bei einem Musikwettbewerb, dass ein*e Schüler*in hochbegabt ist. „Wenn ein Kind musikalisch hochbegabt ist, erbringt es bei gleichem Training überdurchschnittliche Leistungen“, erklärt der deutsche Musikpsychologe Prof. Daniel Müllensiefen. Anders als bei der Messung der allgemeinen Intelligenz gibt es in der Musik derzeit kein standardisiertes Verfahren, um eine Begabung festzustellen. Deshalb seien Musikwettbewerbe ein wichtiges Mittel, um Ausnahmetalenten eine passende Förderung zu ermöglichen.
Wenn die Begabung zum Vollzeitjob wird
Sieben Mal pro Woche bekommen Maddox und sein Bruder Miles, der ebenfalls als musikalisch hochbegabt gilt, zuhause im brandenburgischen Petershagen/ Eggersdorf Musikunterricht. Das berichtet Simone Marsollek, die Mutter der beiden, in einer erst kürzlich erschienenen ARD-Dokumentation zum Thema Wunderkinder. Dazu kämen drei bis vier Stunden eigenständiges Üben am Tag. Und damit nicht genug: Regelmäßig besuchen sie Wettbewerbe und Konzerte – auch im Ausland. Das kostet nicht nur viel Geld, sondern auch Zeit. Die Förderung ihrer Kinder sei ein Vollzeitjob, ihre eigenen Bedürfnisse kämen da oft zu kurz, so die alleinerziehende Mutter.
Nicht alle Eltern können es sich leisten, ihre Kinder so intensiv zu fördern. Oft fehlt schon das Geld für den Musikunterricht. Begabte Kinder, die keine Berührungspunkte mit (klassischer) Musik haben und auch kein Instrument spielen, haben eine viel geringere Chance, ihr Talent überhaupt zu demonstrieren. Weil die Förderung und das Umfeld eine so wichtige Rolle spielen, ist es am Ende eine Klassenfrage, ob ein musikalisch hochbegabtes Kind auf den Bühnen dieser Welt zu sehen ist oder nicht.
Eine Frage des Spielraums
Maddox und sein Bruder wollen später einmal auf den großen internationalen Konzertbühnen spielen – und die Musik zum Beruf machen, denn sie mache sie glücklich, sagen sie. Dank ihres Ausnahmetalents, ihrer intensiven Förderung und einer professionellen Kommunikationsstrategie im Netz sind sie auf dem besten Weg, dieses Ziel zu erreichen. Es sei wichtig, den Kindern alle Möglichkeiten für eine professionelle Karriere zu eröffnen – solange es geht, erklärt Maddox‘ Klavierlehrerin Elisaveta Blumina. Denn wer als musikalisches „Wunderkind“ auf den Konzertbühnen der Welt brilliert, muss nicht automatisch als Erwachsener weiterhin Erfolg haben. Für viele „Wunderkinder“ ist die Karriere mit der Pubertät zu Ende. Ob Maddox wirklich einmal professioneller Musiker oder Komponist wird, das muss er am Ende selbst entscheiden.
Doch nicht alle Eltern musikalisch hochbegabter Kinder sehen das so. Vom weltberühmten Pianist Lang Lang über Michael Jackson bis zum jungen Mozart: Die Kindheit vieler „Wunderkinder“ ist von Drill, Druck und dem Ehrgeiz der Eltern geprägt. Oft bestimmen viel zu lange Übungseinheiten, endlose Konzertmarathons und ständiger Leistungsdruck den Alltag. Dazu kommt nicht selten eine schonungslose Vermarktungsstrategie der Eltern. In Zeiten von Sozialen Medien und einem zunehmenden Konkurrenzdruck bleibt wenig Raum, um einfach nur Kind zu sein.Dann kann es soweit kommen, dass das Musizieren zur Bürde wird und im schlimmsten Falle sogar krank macht. Die japanische Geigerin Midori litt so sehr unter dem Druck ihrer Eltern, dass sie mit 20 Jahren einen Zusammenbruch erlitt, von dem sie sich erst sechs Jahre später erholte.
Eltern und Lehrer*innen müssen darauf achten, welche Förderung dem Kind gut tut und wie viel Spielraum es neben der Musik noch braucht. Dass das Kind dabei Mitsprache hat, sollte eigentlich selbstverständlich sein.