Must have für den Lebenslauf
Wie sieht die Anerkennung von beruflichem Know-how und Praxiserfahrung in der heutigen Zeit aus? Immer noch scheint ein Hochschulabschluss mehr wert als Qualifikation und Persönlichkeit. Auch im Journalismus. Warum?
Wer diverse Stellenausschreibungen in den letzten Jahren verfolgt hat, wird kaum noch eine ohne die Prämisse „Hochschulabschluss“ gefunden haben. In Zeiten der Generation Y, die einen unaufhaltsamen Freigeist an den Tag legt, diverse Quereinstiege hinter sich gebracht hat und dem digitalen Nomadentum zuzurechnen ist, ist es doch verwunderlich, dass diese formale, fast schon angestaubte Anforderung heute noch existiert.
Heute, das bedeutet für manche in einigen Branchen ein 6-Stunden-Tag, 4-Tage-Woche, Homeoffice, Arbeiten von überall auf der ganzen Welt. Meetings via Skype vom Strand auf Bali. Auftragsvergabe via Asana und Slack. Job-Zusagen per E-Mail statt Telefon.
Alles ändert sich. Aber warum wird dann die Anerkennung im Beruf immer noch häufig vom Abschluss anstatt von der Berufserfahrung abhängig gemacht? Ist ein Master in Physik wirklich aussagekräftiger und mehr wert für einen Medienverlag als die Erfahrung einer Frau, die zwar keinen Abschluss hat, aber die seit zehn Jahren um die Welt reist, einen Blog mit 10.000 Aufrufen pro Tag schreibt und vier Sprachen spricht?
Bachelor, Master, Diplom – Hauptsache, studiert
„Geh studieren, dann wird aus dir mal was.“
„Du musst an die Universität, damit du später mal Geld verdienst.“
„Die Regelstudienzeit solltest du schon schaffen.“
Da studiert jemand in Regelstudienzeit, paukt fleißig und lernt für die Klausurphasen und schließt am Ende dann mit einem Master ab. Und jetzt? Praktische Erfahrung oft gleich null.
Trotzdem stehen seine Jobchancen deutlich besser als die von einem Studienabbrecher, der seit einigen Jahren als Freelancer sein Geld verdient.
In Deutschland waren im Wintersemester 2019/20 rund 2,9 Millionen Studierende an deutschen Hochschulen immatrikuliert. Die Zahl steigt stetig seit vielen Jahren. Aber nicht in allen Fällen reicht das akademische Potential bis zum Schluss. Und das muss es auch nicht.
Journalist ohne Abschluss? Nein, danke!
Ich war vor Jahren Teilnehmerin eines Workshops der Jugendpresse, in dessen Rahmen wir einen bekannten und großen Zeitungsverlag besucht haben. Wir wurden herumgeführt, diskutierten sogar mit dem stellvertretenden Chefredakteur. Er sprach mit uns über den Berufseinstieg als Journalist. Seine Worte trafen mich hart: „Studiert an der Universität. Was ihr studiert, ist vollkommen egal. Chemie, BWL, Mathematik – Hauptsache, ihr habt einen Abschluss. Das Studienfach und die Note interessieren in dieser Branche eh niemanden.“
Ein Bachelor in Chemie ist bei einer renommierten Tageszeitung also mehr wert als bereits vorhandene Berufserfahrung in dem Redaktionsbereich, in dem man arbeiten möchte? Ja, offensichtlich.
Ich arbeitete seinerzeit bereits seit fünf Jahren als freie Texterin. Diverse Praktika in Redaktionen hatte ich ebenso absolviert wie ein Fernstudium in Journalismus – allerdings ohne Bachelor-Abschluss. Ich war glücklich als Freiberufler und bin es noch heute. Mich interessierte dennoch, ob auch ohne Hochschulabschluss eine Festanstellung möglich wäre.
Also bewarb ich mich auf Stellen, deren Anforderungen ich allesamt erfüllte – bis auf den Hochschulabschluss.
Vier Adressaten meldeten sich gar nicht erst zurück, eine Firma erteilte mir eine Absage. Ich fragte daraufhin, weswegen es nicht gereicht hätte. Die Antwort: Mir fehlt ein Hochschulabschluss. Natürlich kann ich nicht sicher sagen, dass die Person, die für den Job ausgewählt wurde, nicht auch bessere Referenzen und mehr Erfahrung mitbrachte. Aber definitiv einen Abschluss.
Bloß keine Lücke im Lebenslauf
Eine Lücke im Lebenslauf? So bekommt man doch den Job nicht! Ich wünschte, diese Einstellung würde der Vergangenheit angehören. Denn tatsächlich trägt ein Jahr auf Reisen so viel mehr zur eigenen Entwicklung und geistigen Reife bei, als es ein Bachelor-Abschluss mit 21 Jahren jemals vermag. Denn wer regulär Abitur mit 18 macht, der hat nach der Regelstudienzeit meist auch mit gerade einmal 21 Jahren seinen Bachelor-Abschluss in der Tasche. Wenn es gut läuft, folgt zwei Jahre später der Master. Keine Lücke im Lebenslauf also, alles prima. Wirklich?
Sind es nicht genau diese Dinge, die uns voranbringen: Fehlschläge, das Erkunden neuer Länder und Kulturen, Beziehungen, sogar Schicksalsschläge? All das formt uns zu Personen mit einem reichen Erfahrungsschatz. Nicht zuletzt im Journalismus sind Menschlichkeit und persönliche Reife enorm wichtig. Journalisten bewegen Menschen, sie informieren und teilen ihre eigenen Gedanken mit. Wo soll die dafür nötige Weitsicht und Erfahrung herkommen bei dem geschilderten lückenlosen und fehlerfreien Lebenslauf?
Selektion anhand eines Qualitätsmerkmales
Ein Studium vermittelt standardisiertes Wissen. Da ist es nicht verwunderlich, dass ein Abschluss als aussagekräftiges Bewertungskriterium betrachtet wird. Die Recruiter und Arbeitgeber haben die Person zunächst nicht vor sich sitzen. Es gibt wenige andere akzeptierte Möglichkeiten, vorab auszuwählen, wer zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird und wer nicht.
Ein Hochschulabschluss ist und bleibt ein Qualitätsmerkmal. Aber: Referenzen sagen so viel mehr aus als ein Zeugnis. Arbeitgeber und Recruiter wären darum gut beraten, eher die mitgeschickten Referenzen anerkennend in die Waagschale zu werfen als den Universitätsabschluss der Bewerber. Wahrscheinlich nicht nur im Journalismus.