Nachbarschaftliches Interesse
Menschen aus dem sozialen Umfeld bemerken oft als erste, wenn jemand von häuslicher Gewalt betroffen ist. Das Projekt „Stadtteile ohne Partnergewalt“ aus Hamburg zeigt, was Nachbarschaften gegen Gewalt tun können, anstatt sie zu ignorieren.
Inge Pries setzt sich aktiv gegen Gewalt in Beziehungen ein. Ihrem Umfeld begegnet die Hamburgerin mit besonders offenen Augen. Sie sieht und hört genau hin und, wenn es nötig ist, bringt sie den Mut auf, fremde Menschen anzusprechen. Etwa wenn sie einer Frau mit blauen Flecken im Einkaufszentrum begegnet oder ständig Streit und Türenschlagen aus der Wohnung nebenan hört. Mit rund 20 anderen Ehrenamtlichen verteilt Pries in ihrem Wohnviertel regelmäßig Flyer mit Unterstützungsangeboten. Dazu gehört, „rund um die Uhr“ erreichbar zu sein und bereit zu helfen.
Mit ihren 87 Jahren weiß Pries seit ihren Kindertagen nur zu gut, was Gewalt bedeutet. Darum engagiert sich die resolute Rentnerin von Anfang an für das Projekt „Stadtteile ohne Partnergewalt“(StoP), das 2010 in Steilshoop und anderen sozial benachteiligten Hamburger Gegenden initiiert und konzeptionell an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg von Professorin Sabine Stövesand entwickelt wurde. Heute gibt es derartige Projekte in mehreren Städten, darunter Berlin, Dresden und Wien. StoP will Nachbarschaften stärken, Gewalt verhindern, Handlungsmöglichkeiten in schwierigen Situationen aufzeigen und zu Zivilcourage anregen. Gewalt soll nicht verschwiegen werden.
Auf das Bauchgefühl hören
Statistisch betrachtet kommt Gewalt in Partnerschaften in allen sozialen Schichten vor. Jede vierte Frau in Deutschland erfährt ab ihrem 16. Lebensjahr mindestens einmal in ihrem Leben physische oder sexualisierte Gewalt, meistens durch ihren Partner oder Ex-Partner. Das ergab nicht nur eine viel beachtete, repräsentative Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2004. Getan hat sich seitdem offenbar jedoch wenig. Noch 2019 waren laut Kriminalstatistik immerhin 81 Prozent der Opfer von Partnergewalt Frauen. Einen möglichen Grund dafür bieten die Betroffenen selbst. Sie reden kaum über ihre Erfahrungen, aus Scham oder Angst, nicht ernstgenommen zu werden. Wie kann man also wissen, ob es im eigenen Umfeld zu Gewalt kommt?
Bernard Rasch, StoP-Koordinator in Steilshoop, ist sich sicher: „Gewalt hört man und kriegt man mit.“ Hören könne man häusliche Gewalt in Form von häufigen, lauten Streitereien oder „wenn es poltert, rumort oder scheppert“. Sehen könne man Gewalt an Verletzungen wie blauen Flecken. Doch es geht nicht nur um körperliche Gewalt. Soziale oder finanzielle Kontrolle sind ebenso Ausdruck von Gewaltausübung. Hellhörig sollte man werden, empfiehlt Rasch, wenn sich eine Freundin immer seltener melde oder „nicht mehr alleine irgendwo hingehen darf“. Das Gleiche gelte für auffällige Verhaltensänderungen der Nachbarinnen oder wenn Kinder immer schweigsamer würden. „Man darf dabei auf sein Bauchgefühl hören.“
Gewalt unterbrechen und Hilfe anbieten
„Zwei von drei betroffenen Frauen kommen nicht im Hilfesystem an“, kritisiert der Sozialpädagoge. Daher spielten das soziale Umfeld und die Nachbarschaft beim Beenden von häuslicher Gewalt eine wichtige Rolle. „Nachbarn sind diejenigen, die am nächsten dran sind und am ehesten von Gewalt erfahren.“ Wenn Nachbarinnen oder Nachbarn eine akute Gewaltsituation mitbekämen, sollten sie nicht einfach den Fernseher lauter drehen, formuliert er. Stattdessen könnten sie versuchen, die Situation zu unterbrechen, indem sie alleine oder zu mehreren bei den betreffenden Nachbarinnen klingeln und etwa nach Eiern oder Mehl fragen oder in wirklich brenzligen Situationen schlichtweg die Polizei rufen.
Auch hilfreich: selbst in einem kurzen Gespräch während einer zufälligen Begegnung Unterstützung anbieten. Zwar lehnten laut Rasch die betroffenen Frauen Hilfsangebote zunächst meist ab. Dennoch sei es „wertschätzend, mitzubekommen, dass die Nachbarn hinhören“. Und es könne ein Anstoß sein, sich später doch Hilfe zu holen. Eine andere Möglichkeit sei, Betroffene zu einem ersten Beratungsgespräch zu begleiten. Oder eben wie die StoP-Ehrenamtlichen Infozettel auszuhändigen.
Männer gegen häusliche Gewalt
Doch nicht nur Frauen sollen in den Fokus genommen werden. Vor eineinhalb Jahren gründete Bernard Rasch darum eine StoP-Männergruppe in Steilshoop, die gemeinsam mit den weiblichen Ehrenamtlichen Aktionen durchführt. So sollte sichtbar gemacht werden, dass auch Männer sich präventiv mit Partnergewalt beschäftigen können. Rasch betont aber, es gehe nicht um die Arbeit mit Tätern, sondern darum, wie Männer sich generell gegen häusliche Gewalt positionieren könnten. Dabei spielen die Reflektion von Männlichkeit und die Verantwortung von Männern eine wichtige Rolle. „Die gesellschaftlichen Strukturen fördern ein gewaltvolles Männlichkeitsbild“, erläutert er. Deshalb sei eine wichtige Grundhaltung in der Gruppe, dass „Gewalt gegen Frauen sich unter keinen Umständen rechtfertigen lässt“.
Für Inge Pries steht fest, dass die StoP-Arbeit sich lohnt. „Trotzdem braucht es noch bessere Nachbarschaften und mehr Zusammenhalt.“ Die Entscheidung, sich Hilfe zu holen oder sogar eine toxische Beziehung zu beenden, könnten allerdings nur die betroffenen Frauen selbst treffen, weiß sie. Nachbarinnen und Nachbarn könnten sich jedoch untereinander helfen, den nötigen Mut für einen solchen Schritt aufzubringen.
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BERATUNGSNUMMERN BEI HÄUSLICHER GEWALT
Betroffene von häuslicher Gewalt, aber auch deren Nachbar:innen, Freund:innen und Verwandte können sich beim “Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ unter der Nummer 08000 116 016 täglich rund um die Uhr beraten lassen. Die Beratung ist kostenlos und anonym.
Auch die “Nummer gegen Kummer“ bietet mit dem Kinder- und Jugendtelefon unter der Nummer 116 111 und dem Elterntelefon unter 0800 111 0 550 anonyme und kostenlose Beratungsangebote.