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Nicht nur Schuljungs haben AD(H)S

Von Vera Keddigkeit, Christa Roth / 27. April 2022
picture alliance / Sergey Nivens/Shotshop | Sergey Nivens

Was haben Jungs wie der Zappel-Philipp und Hans Guck-in-die-Luft im Buch ‚Struwwelpeter‘ gemeinsam? AD(H)S. Erwachsene Frauen fallen bei der Diagnose dagegen häufig durchs Raster.

Ob der Philipp heute still

Wohl bei Tische sitzen will?

Also sprach in ernstem Ton

Der Papa zu seinem Sohn,

Und die Mutter blickte stumm.“

Mag sein, dass die stumme Mutter in dieser Szene aus dem umstrittenen „Struwwelpeter“-Kinderbuch des Frankfurter Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1844 gehorsam gegenüber ihrem Mann auftreten wollte. Vielleicht war sie auch einfach nur unaufmerksam und hat von der Szene nicht viel mitbekommen.

Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und impulsives Online-Shopping. Besonders das Gefühl, so viel Chaos im Kopf zu haben, dass man seine Aufgaben nicht umgesetzt bekommt und eine hohe Risikobereitschaft sind Symptome, die Angelina Boerger vor wenigen Jahren haben annehmen lassen, AD(H)S zu haben. Mit anderen Worten: eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Boerger ist freie Journalistin und gründete den Instagram-Account „Kirmes im Kopf“. Dort klärt die selbstbewusste, fröhliche junge Frau ihre rund 16.000 Follower:innen zum Thema AD(H)S auf. Die 30-Jährige erhielt selbst die Diagnose erst vor gut zwei Jahren.

Durch Zufall ergatterte sie Tickets für die Talkshow „Domian Live“. Zu Gast war eine Frau, die von ihrer eigenen AD(H)S Diagnose im Erwachsenenalter berichtet. Boerger erinnert sich: „Das war für mich mit 29 ein richtiger Schlüsselmoment. Als diese Frau von ihrem Alltag mit AD(H)S berichtete, dachte ich mir so: Das beschreibt mein Leben!“ Bis dahin verortete Boerger AD(H)S bei kleinen Jungs in der Schule, aber nicht bei erwachsenen Menschen.

Angelina Boerger stieß trotz vorhandener Symptomatik bei ihrer Therapeutin auf wenig Verständnis. Besonders was AD(H)S-Diagnosen bei Erwachsenen, Frauen und kleinen Mädchen angeht, seien einige Therapeut:innen schlecht aufgeklärt, sagt Boerger heute. Ihre Hausärztin überwies sie schließlich zu einer Spezialistin. Nach aufwendigen Untersuchungen und pünktlich zum 30. Geburtstag dann die Diagnose: AD(H)S. Boerger beschreibt diesen Moment als sehr emotional. Endlich hatte sie einen neuronalen Grund für ihre „Kirmes im Kopf“.

Genderspezifische Begleiterscheinung

Tatsächlich besteht eine Tendenz zu genderbasierten Unterschieden bei AD(H)S. Verkürzt lässt sich zusammenfassen: Jungen explodieren eher, während Mädchen eher implodieren. Der Leidensdruck ist bei beiden Geschlechtern hoch, zumal AD(H)S oft mit Begleiterkrankungen wie einer Depression oder Angststörung einhergeht.

Wie Jungen so sind auch Männer mit der Störung oft auffällig und laut in ihrem Verhalten, während bei Mädchen und Frauen der hyperaktive Aspekt fehlt, der von Mitmenschen am ehesten wahrgenommen wird. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) ist von außen nicht leicht sichtbar.

Zappel-Phillip und Hans Guck-in-die-Luft

Nervenarzt Heinrich Hoffmann, Autor des Buchs „Der Struwwelpeter“, hat anhand seiner Kinderbuch-Charaktere verschiedene Krankheitsbilder dargestellt, die er bei Kindern beobachten konnte. In der Figur des motorisch-unruhigen Zappel-Philipps finden sich AD(H)S-Symptome, während der eher verträumte Hans Guck-in-die-Luft ein typischer ADS-Patient sein könnte – und also ohne die Hyperaktivität auskommt.

In der Grundschule werden Jungs durch ihr hyperaktives Verhalten oft mit AD(H)S diagnostiziert. Die scheinbar geistesabwesenden Mädchen tauchen erst in der Jugend oder als Erwachsene in Beratung oder Therapie auf – vielfach aus eigener Motivation. Oft kommen betroffene Frauen überhaupt nicht auf die Idee, dass sich hinter ihren Problemen mit Konzentration, Motivation und Struktur eine diagnostizierbare Störung verbirgt, die genetisch weitergegeben wird. „Nicht selten erkennen Mütter die Störung sogar erst dann bei sich selbst, wenn es bei ihren Kindern festgestellt wird“, so Karina Bostelmann von der psychologischen Beratungsstelle des Studentenwerks OstNiedersachsen in Lüneburg. Ihr zufolge können beide Formen statistisch ebenso häufig vererbt werden wie das Längenwachstum.

Sieht AD(H)S nicht als Defizit, sondern als Chance: Journalistin Angelina Boerger (Foto: Annika Fußwinkel)

Mit AD(H)S durchs Studium gehangelt

Während ihres Studiums der Sozialwissenschaften in Düsseldorf mogelte Angelina Boerger sich andauernd mit der Frage durch: In welchem Seminar muss ich am wenigsten Leistung erbringen? Bei Vorlesungen fing sie nach fünf Minuten an zu kritzeln. Auch mit den Deadlines tat sie sich schwer. Häufig schickte sie Hausarbeiten nur wenige Minuten vor der Deadline ab. „Von meinem mentalen Pensum her, welches erheblich durch AD(H)S beeinflusst wurde, hätte ich länger für das Studium gebraucht. Die Bafög-Richtlinien und mein zeitaufwendiger Nebenjob erlaubten dies nicht. Das System stand mir da im Weg.“

AD(H)S bringt jedoch nicht nur Nachteile mit sich. Boerger spricht von einer ausgeprägten Empathie und Kreativität. Sie geht Aufgaben bewusst anders an. Nach dem Bachelor hat sie sich gegen den Master entschieden. Sie wollte lieber etwas Praktisches machen. Da kam die umtriebige Medienwelt mit ihren täglich neuen Reizen wie gerufen.

Die Journalistin Boerger beschreibt sich bei der Arbeit „in einer Art Hyperfokus“. Dabei konzentriert sie sich einzig und allein auf die Aufgabe und blendet alles andere aus. Mit deutlichen Konsequenzen: Sie verdrängt den Toilettengang, vergisst etwas zu trinken und zu essen und eine Pause zu machen. „Entweder bin ich voll bei der Sache oder wirklich ‚out of space‘.“ Dabei helfen ihr Listen, eine medikamentöse Behandlung, die die Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn reguliert, und eine Psychotherapie.

Karina Bostelmann verweist auf weitere Behandlungsmöglichkeiten. Dazu zählt die Psychoedukation, bei der Patienten ausführlich darüber aufgeklärt werden, was warum mit ihnen los ist. Oder die Verhaltenstherapie, bei der gemeinsam Verhalten und alltägliche Abläufe angepasst werden.

„Du bist zu faul“

Angelina Boerger hat ihre Probleme bis zum Zeitpunkt der Diagnose auf sich persönlich, ihren Charakter zurückgeführt. Dadurch konnte sie auf keine möglichen Angebote wie den Nachteilsausgleich für chronisch Erkrankte der Uni zurückgreifen. Auf dieser Basis hätte sie Klausuren in separierten Räumen wahrnehmen, eine Fristverlängerung von Abgaben erhalten oder eine Änderung der Prüfungsform erreichen können.

Von außen erhielt sie statt Hilfe vor allem Kritik. „Du verbaust es dir gerade selber.“ „Das Potenzial ist da, aber du bist zu faul.“ Kommentare wie diese hat sich Angelina Boerger während der Schulzeit und im Studium oft anhören müssen und dadurch auch internalisiert.

Ihr Wunsch an die Arbeitswelt ist es, AD(H)S als Chance und nicht als Defizit zu sehen und für mehr Sichtbarkeit von AD(H)S im Erwachsenenalter zu sorgen. „Das gehört zu einer vielfältigen Gesellschaft dazu.“

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