No risk, no Mann?
Männer scheuen kein Risiko, Frauen verhalten sich eher zurückhaltend. Sind diese Klischees noch immer haltbar? Von Erklärungsversuchen über soziale Phänomene und Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die weiter Bestand haben.
In antiquierten Rollenbildern gelten Männer als das „starke Geschlecht“. Nicht nur körperlich überlegen, sondern besonders mutig, aufopfernd und heroisch. Stets bereit, zum Wohle aller das Böse aufzuhalten und/oder die Jungfrau/Prinzessin zu retten. Ein Narrativ, das in Erzählungen und Filmen nur zu gern immer und immer wieder aufbereitet wurde und wird (bis Sigourney Weaver als Ellen Ripley 1979 in „Alien“ zeigte, dass es auch weibliche Action-Heldinnen in Hollywood geben kann). So überholt dieses „Mannsbild“ sein mag, vorhanden ist das heteronormative Rollenverständnis in Teilen der Gesellschaft allemal.
Praktisch veranlagt
Zum männlichen Selbstverständnis beigetragen hat die klassische Arbeitsteilung aus der Altsteinzeit. Als belegt gilt, dass Männer für die Jagd zuständig waren, Frauen für das Sammeln von Pflanzen und Früchten. Liegt dem Mann also der Hang zu Abenteuer und Risiko in den Genen? Schaut man auf damalige wie heutige Wildbeuter-Gemeinschaften ließe sich die Frage auf den ersten Blick bejahen. Die Trennung zwischen Jagd und Sammeln wird nach wie vor überwiegend geschlechtsspezifisch gehandhabt (eine Ausnahme bildet die Volksgruppe der Aeta auf den Philippinen).
Interessanterweise erfolgt diese Aufgabenzuteilung nicht in erster Linie aufgrund von körperlichen Eigenschaften oder der geistigen Entwicklung, sondern entspricht zu großen Teilen erlernten Handlungen, wie die Anthropologen Steven Kuhn und Mary Stiner 2006 in ihrem wissenschaftlichen Beitrag „What’s a Mother to do? The Division of Labor among Neandertals and Modern Humans in Eurasia” feststellten. So sei die Vermeidung von Gefahren (für die weibliche Seite) ein wesentlicher Schutzmechanismus, um die Fortpflanzungsfähigkeit einer Gruppe zu sichern. Des Weiteren ist es für Schwangere oder Frauen mit kleinen Kindern schlicht leichter, Tätigkeiten nachzugehen, die keine große Mobilität erfordern und jederzeit unterbrochen werden können.
Höher pokern, früher sterben
Ist die Risikobereitschaft des Mannes nur ein großer, konstruierter Mythos? Nicht ganz. In vielen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen zeigen sich teils eklatante Unterschiede im Auftreten zwischen den Geschlechtern. Das Deutsche Aktieninstitut vermeldete im Januar dieses Jahres, dass unter den zwölf Millionen Deutschen, die ihr Geld in Aktien und Fonds anlegen, nur ein Drittel Frauen sind. Trotzdem waren einer Analyse der deutschen ING Bank zufolge Frauen in den letzten Jahren erfolgreicher in ihren Investments. Andererseits führen Frauen seltener Gehaltsverhandlungen. Und wenn, sind sie im Durchschnitt zurückhaltender in ihren Forderungen. Männliche Kollegen treten hingegen im Allgemeinen selbstbewusster auf und pokern mehr, um das gewünschte Gehalt zu bekommen.
Doch der männliche Übereifer hat seine Schattenseiten. In Deutschland machen 51 Prozent der Bevölkerung Frauen aus. Trotzdem sind deutlich mehr männliche Verkehrsteilnehmer an Unfällen mit Personenschaden beteiligt. In der jährlich erscheinenden Statistik „Unfälle von Männern und Frauen im Straßenverkehr“ des Statistischen Bundesamtes sind vor allem die Abweichungen bei tödlichen Unfällen gravierend. Im Jahr 2019 starben pro eine Million Einwohner 18 Frauen, aber 56 Männer. Überhaupt ist es statistisch betrachtet nicht unbedingt von Vorteil ein Mann zu sein. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt in Deutschland zwar insgesamt weiter an, doch nach wie vor werden Frauen älter als Männer. Im Jahr 2020 lag der Wert laut Statistischem Bundesamt bei 83,6 Jahren für weibliche Personen, männliche kamen auf 78,9.
Gesundheit ist Frauensache
Rein biologisch lässt sich die Risikoeinschätzung unter Umständen mit den Chromosomen erklären. Frauen besitzen das X-Chromosom doppelt, Männer hingegen ein X- und ein Y-Chromosom. Ist ein Chromosom beschädigt, kann bei Frauen das zweite den Ausfall ausgleichen und so die nötigen Funktionen aufrechterhalten. Im Tierreich lässt sich die Relation zwischen gleichen Geschlechtschromosomen und einer höheren Lebenserwartung an weiblichen Säugetieren und männlichen Vögeln besonders anschaulich nachweisen.
Natürlich ist am Ende des Tages individuelles Handeln auch eine Charakterfrage. Insbesondere wenn es um die eigene Gesundheit geht. Im Podcast „Sprechende Medizin“ gibt Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, jedoch eine weitere mögliche Erklärung für meist männlich deklarierte Verhaltensweisen. „Männer sind eher vom Typ Verdränger. Nach dem Motto: Was von allein kommt, geht auch von allein.“ Seiner Erfahrung nach haben ältere Männer ein deutlich geringeres Interesse am eigenen Körper als Frauen. Eine Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK bekräftigt diese Aussage. Demnach gaben 77 Prozent der befragten Frauen an, ganz bewusst Dinge zu tun oder zu unterlassen, um Krankheiten vorzubeugen. Bei den Männern teilten nur 64 Prozent diese Auffassung. Das betrifft Vorsorgeuntersuchungen, aber vor allem divergierende Lebensweisen, Beispiel Alkohol- und Tabakkonsum, der bei Männern oft signifikant höher ausfällt.
Aber zum Glück kann jeder Einzelne für sich selbst entscheiden, inwieweit man(n) der Statistik entsprechen möchte.
Risikofreudig bzw. mutig war auch *Frau* Annemarie Renger. Der Bundestag ehrt sie heute als Pionierin: Renger (SPD) war ab 1972 die erste Bundestagspräsidentin.