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ContraWirklich jeder ist gestresst

Von Daniel Lehmann / 28. Juni 2024
picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Stress gilt als Volkskrankheit und wird doch überwiegend mit wirtschaftlich schwachen Menschen in Verbindung gebracht. Dabei zeigen diverse Untersuchungen, dass das Wahrnehmen von Stress und der individuelle Umgang damit deutlich komplexer ist.

Stress ist ein wichtiger Schutzmechanismus des Körpers. Er hilft beispielsweise in Gefahrensituationen, schneller und aufmerksamer zu reagieren. Die Stresshormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin bewirken einen erhöhten Herzschlag und eine bessere Sauerstoffversorgung für Gehirn und Muskeln und sorgen damit für einen deutlichen Leistungsschub. Gerade der frühe Homo sapiens war auf diesen Mechanismus angewiesen – sowohl bei der Jagd als auch auf der Flucht vor wilden Tieren.

„Die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts“

Grundsätzlich ist Stress also ein unverzichtbarer und natürlicher Teil der Selbsterhaltung. Problematisch wird es, wenn der Körper zu wenig Ruhephasen bekommt und ständig in Alarmbereitschaft ist. Dann drohen ernsthafte gesundheitliche Folgen. Von Schlafproblemen über Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu Burnout, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind verschiedene Symptome und Krankheitsbilder möglich. Die Weltgesundheitsorgansation (WHO) hat Stress deshalb als eine der „größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts“ benannt. Sie ging schon für 2020 davon aus, dass jede zweite Krankmeldung auf Stress zurückzuführen ist.

Doch welche Ursachen gibt es für Dauerstress? In unserer modernen Welt sind die Stressoren vielfältiger geworden. Zwar geht es seltener um körperliche Entbehrung oder natürliche Feinde, wie es in früheren Epochen noch der Fall war. Dafür ist eine ganze Reihe „neuer“ Auslöser von Stress in den Vordergrund gerückt: äußere Faktoren wie Lärm und schlechte Umweltbedingungen, soziale Stressoren wie Mobbing oder psychisch-mentale Auslöser wie zum Beispiel Leistungs- oder Konkurrenzdruck. Insbesondere Kinder und Jugendliche in der Schule sind oft einem bedenklichen Mix ausgesetzt.

„Mehr Geld gleich weniger Stress“? Fehlanzeige!

Obwohl manche Stressoren wie Konflikte in der Familie oder schwere Krankheiten für fast alle Menschen belastend sind, ist der Umgang mit Stress beziehungsweise dessen Wahrnehmung höchst individuell. In einer Untersuchung der Deutschen Krankenversicherung (DKV) von 2023 kam man zwar zu dem Ergebnis, dass „die Intensität des Stresserlebens und die Stresshäufigkeit […] mit sozioökonomischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen“ korrelieren. Gleichzeitig stellte man aber auch fest, dass zum Beispiel die Formel „mehr Geld gleich weniger Stress“ nicht zutrifft. Tatsächlich gaben unter den Befragten mit der höchsten Einkommensgruppe (4.000 Euro und mehr) die meisten Personen an, sich gestresst zu fühlen. Eine Ursache könnte sein: Es gilt in der oberen Einkommenssicht eher als „schick“ gestresst zu sein. So wie die bekannte negative Charaktereigenschaft, die bei Bewerbungsgesprächen gern genannt wird: Ungeduld.  

Demnach gibt es eine Reihe von Faktoren, die wahrgenommenen Dauerstress wahrscheinlicher macht. Insgesamt betrachtet ist Stress jedoch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der Heidelberger Neurologe Karl Christian Mayer geht davon aus, dass „Veranlagung, körperliche Verfassung, familiäre und außerfamiliäre Umgebung, die Persönlichkeitsstruktur sowie die Fähigkeit zur kognitiven Bewertung der Situation eine entscheidende Rolle spielen“. Auf Seiten der Stressoren ist nach Mayer mitentscheidend, wie vorhersehbar und berechenbar sie eintreten. Die Coronapandemie war nach Ansicht der WHO ein Fall, bei dem beides nicht zutraf, was in allen Gesellschaftsschichten zu entsprechenden nachweisbaren Stressreaktionen führte.

Persönlichkeit und Genetik haben Einfluss auf die Stresswahrnehmung

Ein Forscher:innen-Team der Northwestern University in Chicago untersuchte 2022 ebenfalls den Zusammenhang zwischen Stressanfälligkeit und Persönlichkeit. Der Studie zufolge sind emotional labile Menschen stressanfälliger als emotional stabile Persönlichkeiten. Menschen, die soziale Kontakte pflegen und aktiv und selbstbewusst im Alltag agieren, geraten seltener in subjektiv erlebte Stresssituationen. Neben Persönlichkeitsmerkmalen hat offenbar zudem die Genetik Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit Stress zu erleben. Erleben Schwangere extremen Stress, kann sich das auf den Cortisolspiegel der Kinder auswirken. Zuletzt wurde das unter anderem von amerikanischen und britischen Forscher:innen bei Frauen entdeckt, die den Einsturz des World Trade Centers mit eigenen Augen gesehen hatten und in der Folge eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelten. Vergleichbare Ergebnisse hatte man zuvor schon bei Überlebenden des Holocaust gemessen. Treten Stressoren, Persönlichkeit und Genetik in der „richtigen“ Kombination auf, ist niemand vor Stress gefeit. Umso wichtiger ist es, seinen eigenen Umgang damit zu finden. Neben gesunder Ernährung, ausreichend Schlaf, sozialen Aktivitäten und körperlicher Betätigung gibt es verschiedene Stressmanagement-Strategien wie unter anderem Atemübungen oder Meditation (viele Kurse werden von Krankenkassen bezuschusst), die helfen könnten.



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