ProIm Zweifel Leben retten
Menschen sterben, weil sich andere Menschen prinzipiell für eine Organspende aussprechen, aber keinen Organspendeausweis haben. Dabei könnte die Lösung lauten: Zunächst sind wir alle Spender*innen. Wer das nicht will, kann dem einfach widersprechen.
Dass zehnmal so viele bedürftige Empfänger*innen auf der einen und nicht einmal tausend gezählte Organspenden auf der anderen Seite stehen, zeigt das krasse Missverhältnis überdeutlich. Eine Differenz, die für viele Menschen in Deutschland den Tod bedeutet. Aber eine, die wir ändern können.
Vier von fünf Deutschen können sich vorstellen, Organspender*in zu sein, aber nur jede*r Dritte besitzt tatsächlich auch einen Organspendeausweis. Wir sollten es ihnen leichter machen, ihre noch abstrakte in eine reale Spendebereitschaft umzusetzen, indem wir in unserer Gesellschaft zunächst alle Bürger*innen zu Organspender*innen erklären, ihnen allerdings die unkomplizierte Möglichkeit des Widerspruchs einräumen. Andere Staaten handhaben diese Frage ähnlich. Warum sollten wir es anders machen?
Aber es muss doch Wahlfreiheit geben! – Dann wähl halt!
Tatsächlich würde die Wahlfreiheit der Menschen dank einer Opt-Out-Regelung nicht beeinträchtigt, da jede*r weiterhin individuell entscheiden kann, ob er*sie Organspender*in sein will. Allerdings verändert die Richtungsumkehr der Entscheidung vieles. „Default matters“ – die Standardeinstellung ist relevant. Man denke an einen Fernseher: Nur wenige Menschen machen sich die Mühe, die Werkseinstellungen zu verändern. Mit der Organspende ist es ähnlich: Viele Leute beschäftigt das Thema gar nicht oder nicht intensiv genug. Und das, obwohl ihre Organe Menschenleben retten könnten! Wer dies nicht will, möge dies mitteilen bzw. seinen Willen hinterlegen.
Auf diese Weise werden Menschen unter Druck gesetzt! – Na und?
Ja, es gibt angenehmere Themen als den eigenen Tod. Und ja, es gibt Menschen, die nach ihrem Tod alle ihre Organe im Körper behalten möchten – beispielsweise aus religiösen Gründen. Als Gesellschaft können wir es uns einander zumuten, uns einmal über dieses Thema Gedanken zu machen. Das ist nicht zu viel verlangt. Wenn jemand partout nicht darüber nachdenken will, ist das auch okay. Dann muss man aber mit den Konsequenzen leben – oder eben sterben. Momentan bedeutet die aktuelle Regelung jedoch: keine Organspende, also auch keine Möglichkeit, selbst ein anderes Leben zu retten.
Es ist unmoralisch, Menschen dazu zu zwingen! – Wir lassen jetzt andere sterben.
In der gesellschaftlichen Entscheidung für oder gegen eine Opt-Out-Regelung drückt sich auch ein moralischer Wert aus. Es ist nun einmal so, dass die Zahl der Organspender*innen abhängt von der Wahl der gesetzlichen Regelung, wer als Organspender*in Frage kommt. In jedem Fall muss die Wahlfreiheit gewährleistet sein, natürlich. Es gibt theoretisch genügend potentielle Spender*innen, das zeigen alle Umfragen. Die aktuelle Regelung verhindert allerdings, dass ausreichend viele von ihnen auch tatsächlich zu Spender*innen werden. Also, muss die Regierung ansetzen, die Situation zu verändern.
Was ist mit den Skandalen rund um das Thema? – Vermeidbar.
In Folge des Skandals um manipulierte Wartelisten für Organspenden 2010/11 brach die Zahl der Organspender*innen ein, die Manipulationen haben der Spendebereitschaft heftig geschadet. Ich kann das verstehen. Wenn ich schon meine Organe spende, dann sollen diese nach einem fairen Verfahren vergeben und transplantiert werden. Der Grund für den Skandal lag allerdings gerade in dem Mangel von Spenderorganen. Wie würde ich als Arzt handeln, wenn ich meine Patient*innen sterben sehe? Ich würde alles versuchen, um ihnen zu helfen. Mit der Opt-Out-Regelung gäbe es im Idealfall so viele Organspenden, dass jeder Mensch auf der Warteliste rechtzeitig eine Transplantation erhielte. Manipulationen und Richtlinienverstöße wären so eher vermeidbar.
Gesetzesänderungen erhöhen nicht automatisch die Zahl an Spendern. – Stimmt, aber…
Im neuen Transplantationsgesetz sollen auch andere Dinge geändert werden: Es soll mehr Personal freigestellt werden, es soll die Möglichkeit geben, ein anonymes Dankschreiben an die Familie der*des Spender*in zu richten und eine Rufbereitschaft zur Feststellung des Hirntods soll eingerichtet werden. Diese Maßnahmen sind richtig, das zeigt auch die breite Zustimmung im Bundestag über alle Fraktionen hinweg. Tatsächlich bleibt das Grundproblem, dass es weiterhin weniger (brauchbare) Spenderorgane geben wird als bedürftige Empfänger*innen, wahrscheinlich bestehen. Doch die neuen Regelungen schützen auch diejenigen, die kein Organ spenden wollen. Eine Sorge mag sein, dass aus Zeit- und Personalmangel die Patientenverfügungen zur Frage einer Organspende nicht mehr geprüft werden. Mehr Personal und entsprechende Maßnahmen könnten zur Beruhigung der Nicht-Spender*innen beitragen.
Also größtmöglicher Nutzen, kein Schaden – worauf warten wir?
Was würde sich durch die Opt-Out-Regelung bei der Organspende ändern? Mehr Menschen würden zu Spender*innen: aus Überzeugung und, ja, auch aus Desinteresse (an einer Formalie). Ein Desinteresse, das anderen das Leben retten kann. Es ist unmöglich, den Wert eines Menschenlebens aufzuwiegen. Für mich zählt ein rettbares Menschenleben mehr als jeder bürokratische Aufwand.