DebatteIst Individualität existenziell für unsere Identität?
Individualität – das bedeutet anders zu sein als die anderen. Einzigartigkeit. Sich selbst zu verwirklichen und der Mensch zu werden, der man sein möchte. Doch auch die Einzigartigkeit des Kollektivs ist dabei nicht zu unterschätzen.
In unserer westlichen Gesellschaft ist das Streben nach Individualität der vermeintliche Weg zum Glück. Dennoch folgen wir Trends und Influencer*innen bei Instagram sowie letztlich auch der normativen Wertevorstellung unseres Umfeldes. Können wir als Menschen somit überhaupt individuell durch’s Leben gehen und inwiefern formt der Glaube an den Individualismus unsere Identität?
Über die Mannigfaltigkeit des Einzelnen
Wir kommen als weißes Blatt auf die Welt und verlassen sie als Kunstwerk. Zwischen den Stationen, dem Anfang und dem Ende, finden wir heraus, wer wir sind. Wer wir sein wollen. Was uns ausmacht. Unser weißes Blatt färbt sich, durch Einflüsse und Sozialisationen, durch Praktiken und Diskurse. Das Leben malt, zeichnet, kritzelt. Und es formt uns, jeden auf seine Art und Weise.
Doch was ist Individualität eigentlich? In der Psychologie wird Individualität als die Eigenart des Verhaltens, Agierens und Reagierens eines Menschen definiert. Individuelle Persönlichkeitsmerkmale beschreiben einen jeden Menschen, sie grenzen ihn von seinen Mitmenschen ab. Die Mannigfaltigkeit des Einzelnen äußert sich in Unterschieden. Deine persönlichen Eigenschaften, Interessen, Werteorientierungen und Überzeugungen sind Merkmale, die dich allein ausmachen. Auch das Bild, was du von dir hast, die Art wie du kommunizierst und mit anderen Menschen umgehst, all das formt dich zu dem Menschen, der du bist. (Wenn auch vielleicht dieser nicht unbedingt derjenige ist, der du am Ende des Tages sein willst.) Wir unterscheiden uns von anderen vor allem durch unser Sein. Indem wir unsere Eigenarten zulassen, ihnen Platz verschaffen, erschaffen wir ein Bild von uns, das wir der Außenwelt tagtäglich präsentieren. Schaut her, das bin ich!
Freiheit und Orientierungslosigkeit
Sind Individualität und Individualismus dabei gleichzusetzen? Die kurze Antwort lautet: Nein. Zwar beschäftigen sich beide Begrifflichkeiten mit dem Individuum und seiner Eigenart, jedoch hat jede ihren eigenen Fokus. Individualität beschränkt sich auf den einzelnen Menschen. Individualismus dagegen bettet ihn im großen Ganzen ein. Bei dieser Anschauung ist die Freiheit des Individuums der oberste Grundsatz, soziale Gebilde werden nur als die Summe einzelner Menschen betrachtet. Die Individualisierungsthese des Soziologen Ulrich Beck besagt, dass wir seit den 1960er Jahren aufgrund höherer Bildungsniveaus und vermehrter Mobilität individueller handeln können und sogar müssen, als es früher der Fall war. Heutzutage ist jedem Einzelnen die Gestaltung des eigenen Lebensentwurfes weitgehend frei überlassen. Möchte ich eine Familie gründen? Will ich ein religiöses Leben führen? Fragen, deren Beantwortung man zunächst bei sich selbst suchen muss. Es gibt zwar Vorlagen, aber keine maßgefertigte Schablone für das eigene weiße Blatt. Die Autonomie der Menschen spiegelt sich in ihren Lebensentwürfen wider. Laut Beck ist dies Fluch und Segen zugleich: Hinzugewonnene Freiheit kann zu Orientierungslosigkeit führen. Um sich gegenüber der Vielzahl von Möglichkeiten nicht zu verirren, schließen Menschen sich zu Gruppen zusammen und vermischen ihre Lebensstile. Es bilden sich neue soziale Identitäten.
Doch das Zulassen einer neuen Identität erfordert Platz und stellt sich auch gern schonmal vor die Frage nach der eigenen Individualität. Wer bin ich? Wer werde ich sein, wenn ich dies mache und jenes zulasse? Auf der Suche nach dem eigenen Ich stolpert man über seinen Namen, seinen Geburtsort, seine Muttersprache, seinen Beruf. Jede Person besitzt eine Identität. Sie bildet sich durch Elemente und Momente eines jeden Lebens. Es ist die große Einheit eines Individuums, die aus subjektiv erlebten und gedeuteten Zusammenhängen entsteht.
Kollektive Einflüsse
Wie aber kann es sein, dass jeder vermeintlich individuell sein möchte, und doch vor allem im Strom seiner soziokulturellen Masse mitschwimmt? Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschreibt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk das Individuum als „eine Art Kreuzungspunkt verschiedener kultureller Dimensionen“. Demnach setze sich unsere Identität aus kulturellen und sozialen Einflüssen zusammen, wir sind ständig unterwegs, werden beeinflusst und geformt. Die von Beck angesprochene Autonomie wird dem Individuum hier abgesprochen. Zu groß sind die Einflüsse der Gesellschaft, die auf es einströmen, zu klein die Gegenwehr des eigenen Ichs. Wir schwimmen alle in den gleichen Gewässern. So verwundert es kaum, dass beispielsweise die neue Mittelklasse der Gegenwartsgesellschaft einen bestimmten urbanen Lebensstil teilt. Ihr hoher Bildungsabschluss ist häufig auf ein Studium zurückzuführen, ihr Einkommen stellt ihre soziale Klasse dar. Ihre vermeintlich individuellen Eigenschaften erlauben eine kollektivierbare Lebensgestaltung, die auf Leistungsoptimierung aufbaut. Es stellt sich unweigerlich die Grundsatzfrage: Können wir in solch einer gestaltbaren Gesellschaft wirklich individuell sein? Da wir uns im Laufe eines Lebens weiterentwickeln, ist unsere Identität nicht in Stein gemeißelt. Sie bildet sich prozesshaft, unser soziales Umfeld bestimmt dabei die Grundzüge. Auch bereits verinnerlichtes Wissen und gesammelte Erfahrungen beeinflussen stetig die eigene Selbstwahrnehmung und -verwirklichung. Selbst wenn das Blatt zusammengeknüllt wird, die bunten Striche bleiben bestehen. Faltet man es wieder auseinander, so zeigt sich das eigene Ich.