ProDie Zahlenflut überfordert
Infektionsraten, Noten, Weltrekorde – unsere Welt besteht aus Zahlen. Ohne sie kommt die Forschung nicht aus. Doch für den Großteil der Menschheit spielen sie eine größere Rolle, als sinnvoll ist. Zahlen und Statistiken alleine können uns die Welt nicht begreifbar machen.
2021 emittierte Deutschland laut Umweltbundesamt 762 Tonnen an Treibhausgasen. Im Jahr 1990 waren es noch 1.242 Tonnen. Das Vermögen von Jeff Bezos wird auf rund 200 Milliarden US-Dollar geschätzt und die Erde ist circa 4,6 Milliarden Jahre alt. Aber was heißt das konkret? Viele Emissionen, viel Geld, viele Jahre, mehr lässt sich daraus nicht ableiten. Nur im Vergleich gesehen erhalten diese Zahlen eine Bedeutung. Ein Verlust von zwei Millionen Dollar für Jeff Bezos ist vergleichbar mit dem Verlust von einem Dollar für den oder die durchschnittliche US-Amerikaner*in.
Diese Beispiele zeigen eine grundlegende Problematik unserer Zeit auf: Wir können mit großen Zahlen nicht viel anfangen. Dies wurde in den letzten Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht relevant. Klimawandel und Treibhausgasemissionen sind ihrer Natur nach nicht wirklich visuell wahrnehmbar und entziehen sich ohnehin unserer Vorstellungskraft. (Im Gegensatz zu ihren Folgen.) Auch Zahlenwerte können sie den meisten Menschen nicht näherbringen. Genauso sind die Entwicklungen der Corona-Pandemie und die Bedeutung von exponentiellem Wachstum Menschen nur schwer begreiflich, obwohl die aktuellen Infektionsraten in den Nachrichten noch immer für Schlagzeilen sorgen.
Unser Gehirn ist bereits aus evolutionärer Sicht nicht dafür geschaffen, Zahlen außerhalb unseres Alltagserlebens in ihrer Bedeutung zu erfassen. Dieser Unzulänglichkeit lässt sich nur begegnen, wenn wir neben klassischen Statistiken in Form von Zahlentabellen und numerischen Aussagen wie aus dem Mathebuch auf lebensnahe Visualisierungen und verständliche Bezugswerte setzen. Mit einem einseitigen Fokus auf die üblichen Prozentangaben und Balkendiagramme ist hingegen – in Bezug auf die Darstellung jedweder Entwicklung oder wissenschaftlichen Erkenntnis – auch nicht viel gewonnen.
Zahlen, denen wir glauben möchten
Doch in manchen Fällen sind numerische Darstellungen nicht nur ungeeignet, sondern irreführend – und das zum Teil sogar gewollt. Aufgrund unseres generell geringen Verständnisses für Zahlen in bestimmter Größenordnung lassen sich diese nutzen, um Handlungen schön- oder schlechtzureden oder falsche Tatsachen vorzuspielen. Uneindeutige oder manipulierte Statistiken werden für viele verschiedene Zwecke genutzt: Sei es, um ein Produkt zu bewerben, um eine Nachricht besonders spektakulär erscheinen zu lassen oder aus politischen Gründen.
Das Department of Public Health des US-Bundesstaats Georgia veröffentlichte im Frühjahr 2020 ein Balkendiagramm, das zunächst auf einen eindeutigen Rückgang der Covid-19-Fälle schließen ließ. Erst auf den zweiten Blick wurde klar: Die Daten auf der waagerechten X-Achse waren nicht chronologisch angeordnet. Auch unsachgemäße Vergleiche sind in der öffentlichen Kommunikation häufig anzutreffen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas setzte bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt vor einigen Tagen allen Ernstes “50 Massaker” Israels auf palästinensischem Gebiet mit “50 Holocausts” gleich, was die erwartete Empörung zur Folge hatte. Andere numerische Aussagen oder Statistiken sind weniger offensichtlich irreführend, legen aber dennoch eine bestimmte Interpretation nahe. So zum Beispiel, wenn Politiker*innen über die Verwendung von Finanzmitteln sprechen. Hier sind die Größendimensionen und -vergleiche für den oder die Bürger*in zum Teil ohne nähere Einordnung schlicht nicht nachvollziehbar. Trotzdem lassen wir uns gerne von großen Zahlen und vermeintlichem Expertentum blenden.
Doch liegt ein solches Verhalten nur an fehlender Bildung oder Auseinandersetzung mit der Problematik? Nein, sagt zumindest die Kognitionsforschung. Unser Gehirn ist darauf angelegt, in vielen Situationen schnelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Jede Entscheidung bis ins kleinste Detail zu überdenken ist für eine effektive Alltagsbewältigung nicht sinnvoll. Besonders gerne schenken wir darum solchen Angaben Glauben, die unsere Weltsicht bestätigen. Das liegt am sogenannten Bestätigungsfehler – der unbewussten Tendenz, Informationen auszuwählen und zu verarbeiten, die unseren Grundannahmen entsprechen. Klingt sehr wissenschaftlich? Ist aber so.
Wie messbar ist die Welt?
Auch dort, wo Forschung ordnungsgemäß durchgeführt und quantitative Messungen realitätsgetreu und nachvollziehbar dargestellt wurden, sind sie teilweise aufgrund hoher Dunkelziffern wenig aussagekräftig. Bei Statistiken zum Thema häusliche Gewalt ist laut der Hilfsorganisation WEISSER RING von einem Dunkelfeld von mindestens 80 Prozent auszugehen. Auch in Sachen nicht erfasste Fälle lässt sich wieder an die allgegenwärtige Corona-Pandemie anknüpfen. Pharmazieprofessor Thorsten Lehr erklärt gegenüber ZDFheute, dass die tatsächliche Zahl der Fälle zwei-bis dreimal so hoch sein könnte, wie es momentan öffentlich kommuniziert wird.
Doch was ist die Konsequenz dieser Feststellungen? Die Lösung soll selbstverständlich nicht sein, keine quantitative Forschung mehr zu betreiben oder zu verbreiten. Vielmehr sollten wir das Zustandekommen und die Aussagekraft von Zahlen und Statistiken stets hinterfragen und uns immer wieder bewusst machen, dass diese errechneten Angaben manchmal nur einen Teil der Wirklichkeit widerspiegeln. Hier könnten Bildungsinstitutionen ansetzen und nicht nur Statistik selbst, sondern auch einen kritischen Umgang damit lehren.
Also her mit (fundierten) Zahlen und Statistiken – aber für die öffentliche Kommunikation bitte in einem vernünftigen, anschaulichen Kontext und nur, wenn diese auch einen inhaltlichen Mehrwert bieten. Denn der derzeitig vorherrschende, latent verkrampfte Fokus auf Zahlen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr verwirrend als hilfreich.
Gute Debatte! Kleiner Tipp: Über Zahlen hat schon der Phänomenologe Edmund Husserl vor mehr als hundert Jahren philosophiert, z.B. über die Frage, ab welcher Größe ein Mensch die Anzahl nicht mehr sofort erfassen kann, sondern tatsächlich nachzählen muss, und welche erkentnnistheoretischen Ableitungen daraus zu gewinnen sind.