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Radikale Mitte

Von Tim Bredtmann / 23. Oktober 2019
Foto: Tim Bredtmann

Die Protestbewegung Extinction Rebellion hat angekündigt, gesellschaftliche Normalität mit zivilem Ungehorsam in Berlin eine ganze Woche lang zu durchbrechen. Gelegenheit, etwas über Grenzen zu lernen.

Die Rebellion beginnt Montag in der Frühe. Der Große Stern in Berlin wird besetzt. Hunderte Aktivistas blockieren an diesem Oktobertag jede Ein- und Ausfahrt rings um die Siegessäule. Seit vier Uhr morgens kommt hier kein Auto mehr durch. Die Polizei hat weiträumig abgesperrt, sodass ein ungewohnter Blick bis zum Brandenburger Tor möglich ist, ohne eine einzige Schadstoffschleuder zu erspähen. So viel frische Luft hat die gute alte „Goldelse“, wie die krönende Viktoria im Berliner Volksmund heißt, lange nicht mehr um sich gehabt. Mit ein wenig Glück kann sie noch bis Mittwoch tief durchatmen. Die Rebell_innen zumindest scheinen entschlossen, die Blockade so lange durchzuhalten. Zwischen ihnen herrscht ein geschäftiges Treiben. Die Fahrbahn ist bemalt mit bunten, x-förmigen Sanduhren. X wie das Symbol von XR, so nennt sich die Bewegung Extinction Rebellion selbst kurz. Zahlreiche kleine Grüppchen sitzen friedlich herum. Einige singen, andere reden, manche schlafen sogar. Am Fuße der Siegessäule ist ein Holzschiff aufgebaut, welches fleißig mit vielen kleinen Pinseln bemalt und auf den Namen „Arche Rebella“ getauft wird.

Reichen sich gegenseitig eine Hand: Aktivistas am Holzschiff „Arche Rebella“. (Foto: Tim Bredtmann)

Die Stimmung ist entspannt, auch oder gerade weil hier alles präzise organisiert ist. Verhaltensweisen sind eingeübt, lerne ich, die Aufgaben verteilt. Es gibt kaum Müll, statt aggressiver Parolen ist immer wieder bedächtiger Gesang zu hören. Das Ergebnis: Mitten in der Bundeshauptstadt kann einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte für etliche Tage unzugänglich gemacht werden. PKWs und LKWs – alle müssen auf andere Routen ausweichen; alltägliche Abläufe sind empfindlich gestört und damit bei so manchen auch die eigene Grenze überschritten: „Geht arbeiten!“ oder „Was ist an euren Wärmedecken ökologisch!?“, pöbeln Passant_innen die Aktivistas an. Als Antwort gibt es Flyer, ein Lächeln und ein Gesprächsangebot.

Markieren, um Ausschluss zu ermöglichen

Doch was überhaupt ist eine Grenze? Eine Grenze kann natürlich sein. Ein Fluss, ein Berg und das Mittelmeer stellen natürliche Grenzen dar (früher mehr als heute). Auch der Erschöpfung von Rohstoffen sind Grenzen gesetzt (heute mehr als früher). Grenzen sind in vielen Fällen aber von Menschen gemacht. Manchmal können wir sie sehen (DDR, Nordkorea), viel öfter aber bleiben sie unsichtbar. Dann sind sie strukturell. Sie sollen bewahren, was als wertvoll erachtet wird. Sie sollen schützen, wer hinter ihnen lebt. Dabei gilt zu bedenken: wer da bewahrt, wer was als wertvoll einstuft, wer beschützt und in welcher Form dies geschieht. Denn von Menschen gesetzte Grenzen haben letztlich die Aufgabe, andere auszuschließen.

Grenzen. Wenige Worte lösen bei mir so negative Gefühle aus wie dieses. Für viele bedeuten sie Sicherheit, den anderen stehen sie für das Ende von Freiheit. Sie zwingen uns auf eine Seite, dazu, eindeutig Stellung zu beziehen, auch wenn wir das nicht wollen. Für die Bewegung XR sind beide Formen von Grenzen bedeutsam. Sie kämpfen einerseits dafür, die natürlichen Grenzen des Planeten einzuhalten. Deshalb sollen Treibhausgasemissionen bis 2025 auf Netto-Null reduziert werden, um die Erderwärmung einzudämmen. Gleichzeitig überschreiten sie als Aktivistas bewusst von Menschen geschaffene Grenzen unserer Zivilgesellschaft, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie argumentieren: Die öffentliche Ordnung „müsse“ gestört werden, weil politische, ökologische und soziale Realitäten längst ein verträgliches Limit erreicht hätten. Der Klimawandel, wissenschaftlich gesicherter Fakt mit zahlreichen katastrophalen Konsequenzen, ist mithin das deutlichste Limit. Mit der Natur kann der Mensch nicht verhandeln. Halbherzige Kompromisse? Fehlanzeige. Diese Botschaft will man sich hier nicht nehmen lassen.

Einen Plan B? Gibt es nicht. Genauso wenig wie eine zweite Erde. Darum müssen wir wieder in Einklang mit der Natur leben, fordert XR. (Foto: Tim Bredtmann)

Bis hierhin und nicht weiter?

Eine Aktivistin ist extra aus Süddeutschland angereist und hat sich für die Zeit der Proteste im Klimacamp eingerichtet. Sie drückt mir Infomaterial in die Hand, fängt ein Gespräch an: „So, wie wir jetzt leben, können wir nicht weitermachen. Wir müssen uns ändern.“ Sie wirkt eher entschlossen als aufdringlich. „Hoffentlich können wir mehr Menschen davon überzeugen.“ Die junge Frau hat eine Wärmedecke um die Hüfte gewickelt, die morgendliche Kälte setzt ihr immer noch zu. Also bleibt sie in Bewegung und verschwindet hinter der Arche Rebella, wo es genug zu tun gibt.

Nach einem Tag an der Seite der Aktivistas ist mir klar, ein System, welches die Grenzen des Erdballs nicht respektiert, verdient selbst keinen Respekt mehr. Dazwischen gibt es nichts. Das macht uns nicht zu guten oder bösen Menschen, aber zu Menschen, die durchdachtere Entscheidungen treffen müssen. Wir sind Teil unserer Umwelt, wir können uns der Welt nicht entziehen und über den Dingen schweben. Wie wir uns fortbewegen, was wir essen, welche Kleidung wir tragen – alles ist inzwischen eine politische Entscheidung. Doch wer nur Umstürzler unterhalb der Siegessäule erwartet, irrt. XR hat längst einen Teil der Mitte der Gesellschaft erreicht. Eine Mitte, deren Verlangen nach einem radikalen Umdenken im Grunde keine Grenzen mehr kennt.

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