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Reichlich Diskussionsbedarf

Von Luan J. Kreutschmann / 28. November 2017
picture alliance / Birgit Reitz-Hofmann/Shotshop | Birgit Reitz-Hofmann

Das Bedingungslose Grundeinkommen soll den sozialstaatlichen Herausforderungen von Arbeit begegnen und Armut verhindern. Führt es auch zu einer neuen Perspektive auf gesellschaftlichen Reichtum?

Bereits vor 75 Jahren machte sich der britische Ökonom Sir William Beveridge in seinem gleichnamigen Report Gedanken über gesellschaftlichen Reichtum: darüber, was Reichtum für den Staat und seine Bürger_innen bedeutet und was eine Gesellschaft davon abhält, zu prosperieren. Er identifizierte fünf Grundübel:

Want (Armut), Ignorance (mangelnde Bildung), Disease (unzureichende Gesundheitsversorgung), Squalor (mangelhafte Wohnsituation) und Idleness (Müßiggang).

Damit legte Beveridge die noch heute gültigen Grundsteine für den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit. Seitdem müssen sich sozialpolitische Maßnahmen daran messen lassen, ob sie Antworten auf diese „Übel“ geben können – inwiefern sie also Problemlösungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Teilhabe, Autonomie und Muße anbieten.

Das BGE – eine Lösung für alle Übel?

Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) will vor allem dafür sorgen, die Teilhabe an Wohlstand und Arbeit zu verbessern. Diese Idee kommt seitdem gut an. Bereits 2011 unterzeichneten innerhalb weniger Tage mehr als 50.000 Menschen einer der bis heute erfolgreichsten Online-Petitionen. Sie forderten den Gesetzgeber dazu auf, das BGE einzuführen. Doch noch immer diskutieren wir darüber, ob und wie eine bessere Reichtumsverteilung möglich ist.

In seiner Urform geht das Konzept bereits auf das antike Sparta zurück und wurde in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre das erste Mal intensiv behandelt. Das vorrangige Prinzip besteht darin, monetäre Transferleistungen an Individuen und nicht an Haushalte auszuzahlen. Die Menschen bekommen unabhängig von ihrem Einkommen und anderen Bedingungen eine bestimmte Summe Geld – deshalb bedingungslos. Drittens wird das BGE gezahlt, ohne dass der Empfänger arbeiten oder bereit sein muss, zu arbeiten.

Für die realpolitische Umsetzung sind vor allem drei Modelle derzeit wieder verstärkt in der Diskussion: das „bedingungslose Grundeinkommen“ im Sinne der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen der Linken, das „solidarische Bürgergeld“ nach Dieter Althaus von der CDU und das Grundeinkommen nach den Vorstellungen von dm-Chef Götz Werner. Unter dem Stichwort „solidarisches Grundeinkommen“ finden sich zudem Ausarbeitungen des Regierenden Bürgermeisters der SPD, Michael Müller.

Muße statt Armut und Arbeitslosigkeit

Das BGE adressiert besonders das letzte, allem übergeordnete Problemfeld der Beveridgeschen Übel: das von Arbeit vs. Müßiggang. Wie der Soziologe Stephan Lessenich in einer Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung festgehalten hat, beseitigt das BGE das Hemmnis des Müßigganges – anders als bisherige vorgeschlagene Maßnahmen – nicht durch die Verordnung von Arbeit, sondern durch eine positive Umdeutung des Müßiggangs in Muße.

Dies hält er für den „archimedischen Punkt“ der Grundeinkommens-Debatte. Unter Muße versteht Lessenich die Voraussetzung für das Gefüge aus Arbeit, Bildung, Kultur und Demokratie, in dem wir uns bewegen. Muße ist jede Form selbstbestimmter Zeit, die nicht erwerbsförmig strukturiert wird, wie etwa Hobbys oder Erholung.

Muße ist demnach kein Übel, sondern nach Lessenich eine spezifisch für den Menschen notwendige Tätigkeit.

Seit der Industrialisierung basiert die moderne Gesellschaft laut Lessenich weitestgehend auf einem Menschenbild, demzufolge „der moderne Mensch zu einer arbeitsethisch angemessenen, der erwerbsgesellschaftlichen Ordnung entsprechenden Lebensweise angehalten und angeleitet werden muss“. Das BGE stellt dem einen Arbeitsethos entgegen, das dem Menschen ganz grundsätzlich den Willen zur und die autonome Entscheidung für eine Beschäftigung zuschreibt.

Das „Hamburger Programm“ der SPD deutet darauf hin, dass Muße als integraler Bestandteil von Arbeitnehmer_innen-Rechten zu sehen ist. Gerechtigkeit, ebendort definiert als gleicher Zugang zu Teilhaberechten, bedeutet auch das Recht auf Teilhabe an Muße – um erst die Voraussetzungen zu schaffen zur Teilhabe an Erwerbstätigkeit, aber auch an Demokratie und Kultur.

Mehr Arbeit ist nicht gleich mehr Wohlstand

Teilhabe ist ein Kernthema der deutschen Sozialpolitik der vergangenen Jahre. Mit den Hartz-Gesetzen 2004 hat sich das Leitbild vom „vorsorgenden“ zum „fördernden und fordernden“ Sozialstaat verändert. In der Folge traten Selbst- und Fremdbilder wie das des „abgehängten Prekariats“ auf. Arbeit trägt immer seltener zu Wohlstand bei. Parallel dazu diskutierte erstmals seit den 1980er-Jahren die breite Gesellschaft wieder das Grundeinkommen. Das ist kein Zufall.

Befürworter_innen des BGE meinen, dieses könnte die Kategorien Arbeit und Einkommen endgültig voneinander entkoppeln. Damit wäre erstmals denkbar, die Bürger_innen des Wohlfahrtsstaates sowohl als kapitalbesitzendes bzw. -generierendes auf der einen, und zugleich als tätiges Wesen auf der anderen Seite zu begreifen und anzusprechen. Diese Anerkennung freier Entscheidungsträger_innen und in ihnen zugleich Produktionskräfte wahrzunehmen würde die gesellschaftliche Stellung von Geldmitteln revolutionieren. Sicher wissen wir das aber nur, wenn wir es ausprobieren.

Das BGE löst womöglich weder die fünf Beveridgeschen Übel im Allgemeinen noch das des Müßiggangs im Besonderen. Was jedoch allein schon die Debatte über das BGE ermöglicht, ist eine facettenreichere Perspektive auf Reichtum und Armut.

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