Tanzend der Revolution entgegen
Musik löst Emotionen aus, kann uns zum Handeln bringen und damit die Gesellschaft verändern. Diesen Aspekt machen sich seit Jahrhunderten auch politische Bewegungen zu Nutze. Aber kann Musik die Welt retten?
Die biologische Wirkung von Musik auf den menschlichen Körper ist mittlerweile weitgehend erforscht. Musik, sprich organisierter Klang hat messbaren Einfluss auf das vegetative Nervensystem, verändert also unseren Herzschlag und Blutdruck, die Atemfrequenz und die Leitfähigkeit der Haut. Denn er wirkt sich deutlich auf unseren Hormonhaushalt aus. Das Team des kanadischen Neurowissenschaftlers Robert Zatorre hat herausgefunden, dass intensives Musikerleben Gehirnregionen aktiviert, die für Glücksgefühle zuständig sind. Der Körper schüttet während des Hörens vermehrt die Hormone Dopamin und Endorphin aus – wie bei anderen freudvollen Aktivitäten, dem Konsum bestimmter Rauschmittel oder Sex.
Die Ergebnisse von Hirnforscher Stefan Kölsch ergänzen diese Beobachtung: Musikhören kann bindungsbezogene Emotionen hervorrufen, also positive Gefühlsregungen, die eine soziale Komponente haben. Sie werden als sanft beschrieben und oft mit Begriffen wie „gerührt sein“ verbunden. Diese Erfahrungen gehen über puren Spaß im Sinne eines aktivierten Belohnungszentrums hinaus. Die Wissenschaft erklärt das evolutionstheoretisch: Beim gemeinsamen Singen oder Tanzen kommunizieren wir mit anderen Menschen, wir kooperieren miteinander. Musik stellt sozialen Zusammenhalt her und stärkt ihn – eine grundlegende Voraussetzung für unser Überleben.
Die Wirkung von Musik ist allerdings stark von den Umständen abhängig, unter denen sie gehört wird. Hier spielt das Konzept der klassischen Konditionierung aus der Psychologie eine wichtige Rolle. Man kann ein Musikstück nicht isoliert für sich betrachten, sondern es gilt, die jeweilige Situation und die Vergangenheit der Zuhörenden miteinzubeziehen. Beide Aspekte beeinflussen die emotionale Bedeutung, die die Musik für uns hat. Ein und dasselbe Stück kann deshalb auf die eine traurig und auf den anderen heiter wirken.
„Power to the People“
Politik ist auch und vor allem Kommunikation. Politischer Protest, insbesondere wenn er auf keine eingespielten Strukturen zurückgreifen kann, benötigt nichts so dringend wie schnelle und effektive Kommunikationswege. Der Musiker und Neuropsychologe Eckardt Altenmüller beschreibt Musik als eine akustische Form emotionaler Kommunikation. „Musik war ein wunderbares Mittel, um Gruppen zu organisieren, Arbeitsteilung zu organisieren, Gruppen zu synchronisieren“, erklärt er im Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Seit Jahrhunderten habe politisches Liedgut Bewegungen, Organisationen und ganzen Nationen zur Vermittlung ihrer Botschaften geholfen: bei der Abschaffung der Sklaverei ebenso wie bei den Suffragetten, der Arbeiterbewegung, der Friedensbewegung oder im Kampf für Bürgerrechte.
Politisches Liedgut sollte dabei aufklären und überzeugen. Aber auch heute noch wird Musik gebraucht, um Menschen zu mobilisieren und sie dazu bringen, sich zu solidarisieren. Das Protestlied nimmt dabei eine zentrale Bedeutung ein: „Lieder, die Kraft entfalten, weil sie entweder das Dasein notleidender Gruppen beschreiben und beklagen oder weil sie Veränderungen anmahnen, sind seit den Bauernkriegen überliefert. Ökonomische Benachteiligung, gesellschaftliche Widersprüche und auch Sehnsüchte nach einem besseren Leben brachten immer wieder neue Lieder hervor“, formuliert es der Musikprofessor Thomas Klug. Unter den Faktoren, die bestimmen, wie wir solche Musik wahrnehmen und in politisches Handeln umsetzen, ist jedwede Form von gesellschaftlicher Unterdrückung womöglich der prominenteste. Hier werden gesungene Forderungen zur Stimme derer, die sonst keine haben beziehungsweise nicht gehört werden. In der politischen Auseinandersetzung stiftet das gemeinsame Lied also nicht nur nach innen Gemeinschaft. Es dient auch als Kommunikationskanal nach außen und richtet sich an diejenigen, die sich mit den Zielen der Bewegung identifizieren, „wirbt“ neue Mitglieder und zeigt darüber hinaus die Geschlossenheit der Gruppe an.
„Imagine“
Zwar scheint nach der letzten Blütezeit des politischen Liedes in den Sechzigern, wie des lateinamerikanischen Nueva Canción und später des Punks sowie des Hiphop, der Protestsong mittlerweile etwas aus der Mode gekommen zu sein. Doch nach wie vor besingen Künstlerinnen und Künstler weltweit ihren Traum von Gerechtigkeit. Es sind Bewegungen, die die Musik in den Mittelpunkt stellen, Organisationen, die Musizierende überall auf der Welt zusammenbringen, Vereine, die Konzerte zur Völkerverständigung ausrichten, denen eines häufig gelingt: Die ideologischen Gräben der Politik überwinden.
Auch die wohl größte Bewegung unserer Zeit hat ihren eigenen Soundtrack: Fridays for Future hat eine Demonstrations-Playlist beim Streamingdienst Spotify online gestellt. Hier findet sich Songs der britischen Indie-Rockband The 1975 (die Greta Thunbergs Rede zu Musik macht), von Sido, Kraftklub und Ton Steine Scherben, aber auch Werke des deutschen Liedermachers Hannes Wader und das alte Partisanenlied „Bella Ciao“. Denn als Mittel zur Verständigung jenseits von Sprache kann Musik anscheinend nicht nur Länder-, sondern auch Generationengrenzen überschreiten.
Ob als Wiegenlied der Transformation oder Soundtrack des Weltuntergangs: Wenn alle Appelle, Daten und Fakten nicht mehr weiterhelfen, dann vielleicht die Musik. Sie drückt, so formulierte es der französische Schriftsteller Victor Hugo, „das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“