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Tor zu einer anderen Welt

Von Sophie Hubbe / 21. September 2017
Foto: Sophie Hubbe

Für die einen die Hölle, für die anderen ein großer Spielplatz: Festivals. Sommer für Sommer auf die Äcker und Wiesen Deutschlands?

Wenn die Nachbarn zum Frühstück das Trinkspiel Flunkyball spielen und der Ghettoblaster in Dauerschleife die „Cantina Band“ plärrt, befindest du dich mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem Festival. Dort, wo zwischen Zelten, Pavillons und Bierwagen glitzernde Menschen mit Einhornleggins herumspringen, rückt der Alltagsstress in die Ferne.

Vor den Bühnen wehen im Takt der Musik bunt dekorierte Regenschirme, während es Konfetti regnet – und allzu oft auch echten Regen. Deutschland ist Festivalland: Kein anderes Land stemmt pro Kopf so viele mehrtägige Großveranstaltungen unter freiem Himmel. Mehr als 500 Festivals gibt es bereits, jedes Jahr kommen neue dazu. Damit sind Festivals ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor.

Diese Entwicklung veranschaulicht das weltweit größte Heavy-Metal-Festival, das Wacken Open Air. Im Gründungsjahr 1990 konnten Besucher noch für ein paar Mark ganze sechs Bands live erleben. In diesem Jahr waren es 150 Acts und ein Ticket kostete schlappe 220 Euro. 85.000 Metal-Fans aus aller Welt reisten in die kleine Gemeinde Wacken in Schleswig-Holstein.

Hohe Kosten, dreckige Klos, kalte Duschen? Alles anscheinend nicht so schlimm wie der Moment schön ist, wenn die ersten Takte der Lieblingsband erklingen. Auch mich lässt das Festivalfieber seit zehn Jahren nicht mehr los. Zwar habe ich mir mittlerweile eine gut gepolsterte Luftmatratze zugelegt und reise nicht mehr mit Busshuttle und Zug an, sondern gemütlich mit dem Auto, doch einen Sommer ohne Festival kann ich mir nicht vorstellen.

Der Kommerz kommt

Ähnlich geht es Luisa (27) aus Leipzig. Sie fährt seit zwölf Jahren regelmäßig auf Festivals. „Es ist immer wieder fantastisch, mit den Menschen, die ich mag, eine tolle Zeit zu verbringen, Musik zu hören und vor allem neue Menschen kennenzulernen.“ Dabei genießt sie vor allem das Zeltplatzfeeling: gemütlich im Campingstuhl am Grill sitzen und gemeinsam vortrinken, bis es auf das Festivalgelände geht. Die Zeit auf dem Zeltplatz wird auch deswegen immer wichtiger, weil Besucher kaum noch eigene Getränke mit auf das Bühnengelände nehmen dürfen, wo die Preise überteuert sind.

Die Kommerzialisierung der großen Festivals hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Zahlreiche Buden locken mit fettigem Essen zu noch fetteren Preisen. Viele Getränke- und Tabakunternehmen werben mit Gratisproben, Aussichtsplattformen und Fotoboxen. Von den Festivalbändchen sind die Markennamen nicht mehr wegzudenken. Der Festivalbesucher ist zur wandelnden Werbetrommel geworden.

Auch das Rocken am Brocken im Harz mit seinen 6.000 Besuchern, das eher einer großen Familienfeier gleicht, kommt nicht mehr ohne Redbull-Zelt oder Jägermeister-Stand aus. Gerade die kleinen Festivals, die nur durch die ehrenamtliche Arbeit vieler freiwilliger Helfer entstehen, brauchen Sponsoren, um die Ticketpreise bezahlbar zu halten.

Der Kommerz schadet augenscheinlich nicht der Kreativität der Festivalbesucher. Manche laufen als Pfandautomaten durch die Gegend oder hegen und pflegen zelteigene Vorgärten. Der Einfallsreichtum ist groß, wie auch Miriam (23) aus Leipzig berichtet: „Auf dem Hurricane hat es dieses Jahr furchtbar geregnet und unser Pavillon hatte keine Wände. Da haben wir fünf Rollen Frischhaltefolie gekauft und den Pavillon ringsherum damit eingewickelt, um vor dem Regen geschützt zu sein.“ Extreme Situationen erfordern eben manchmal extreme Maßnahmen.

Mit Bierdosen-Dackel an der Leine

Ohne Frage herrscht auf Festivals der Ausnahmezustand. Spätestens ab dem zweiten Tag läuft alles aus dem Ruder. Du triffst Besucher, die ihren Bierdosen-Dackel Gassi führen, und ertappst dich selbst dabei, „Cantina Band“ mitzusingen. Das ist das Besondere an Festivals. Auch wenn du die Menschen um dich herum kaum kennen magst, alle scheinen gut gelaunt und sorgenfrei. Eine australische Studie belegt, dass Menschen, die regelmäßig auf Konzerte und Festivals gehen, ein glücklicheres Leben führen. Grund hierfür ist laut der Studie das Zusammensein mit anderen Menschen und das gemeinsame Erleben der Musik.

Auch für Mathias (34) aus Dresden sind das Gründe für den Festivalbesuch: „Man taucht nach dem Eingangstor in eine andere Welt ein. Die Menschen auf Festivals verhalten sich nicht wie im normalen Leben. Hier können sie sich austoben und Sachen tun, die sie sonst nicht machen würden.“ Negative Erfahrungen hatte er bisher nicht. Natürlich sei die Musik nicht immer gut und manchmal gäbe es ein paar Toiletten zu wenig, aber das sei weniger schlimm.

Für mich endete am vergangenen Wochenende die Festivalsaison 2017 auf dem Lollapalooza in Berlin. Doch trotz eines spektakulären Line-Ups kam keine wirkliche Festivalstimmung auf. Auf dem Lollapalooza können Besucher im Gegensatz zu anderen Festivals nicht zelten. Und seien wir ehrlich: ein Festival ohne Zelten ist und bleibt eben kein richtiges Festival.

Während Luisa (27, Leipzig) regelmäßig auf Festivals fährt, ist Florian (29, Hamburg) eher ein sporadischer Festivalgänger. Sein Highlight auf dem diesjährigen Lollapalooza sind die Foo Fighters. Seit Jahren ist es sein großes Ziel, sie einmal live zu sehen und dieses Mal klappt es endlich. Was beide vom Wochenende erwarten: Luisa: „Ganz viel Spaß und gute Laune.“
Florian: „Regen und Alkohol.“ Luisa: „NEIN, kein Regen!!“

Für Janine (30, Berlin) und Mathias (29, Berlin) ist das Lollapalooza ihr erstes Festival. Neben dem Line-Up war vor allem der Umstand, dass man nicht zelten muss, ein Grund warum sie sich ein Tagesticket gekauft haben. Aber warum nur ein Samstagticket? Mathias: „Weil wir Montag wieder arbeiten müssen (lacht).“
Janine: „Wir wollen auch mal gucken, ob dieses ganze Festival-Ding überhaupt was für uns ist. Aber wir dachten uns, mit 30 kann man ja mal was Neues ausprobieren.“

Matthias (34, Leipzig) steht eigentlich auf die etwas „dunkleren“ Festivals. Aber in den letzten Jahren war er überwiegend nur noch auf Rockfestivals, wie dem Hurricane oder dem Highfield. Einzige Ausnahme: das Lollapalooza.


Theresa (24, Halle) ist zum vierten Mal auf einem Festival. Sie liebt es, neue Bands zu entdecken, für die sie sich einzeln keine Konzertkarte gekauft hätte. So ging es ihr bei ihrem ersten Lollapalooza-Festival mit Mackelmore; der hat sie „total umgehauen“. Julia (25, Halle) überlegt lange bei der Frage, das wievielte Festival es für sie ist: „Definitiv irgendwas im zweistelligen Bereich.“ Doch diesen Sommer wird sie wohl nicht so schnell vergessen, denn da hat sie ihren jetzigen Freund auf einem Festival kennen gelernt.“

Miriam (23, Leipzig) ist noch ein Festival-Neuling. Sie saß eines Abens mit ihren Mitbewohnern am Küchentisch und auf einmal meinte einer: „Wow, voll das gute Line-Up, da müssen wir hinfahren!“ Im nächsten Moment waren die Lollapalooza-Tickets gebucht. Da passte es ganz gut, dass Miriam sich gerne verkleidet: Miriam: „Die pinken Haare lagen bei mir zuhause noch rum. Es ist wie ein Ausbruch aus der Realität und ein weiterer Vorteil ist, dass meine Gurppe mich so immer wieder findet in der Menschenmenge.“

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