Trainspotting
Sich im Kreis drehen verheißt nichts Gutes. Im Fall der Deutschen Bahn könnte sich ein Ausweg abzeichnen. Aber was wünschenswert wäre, ist eher unwahrscheinlich. Ein Abgesang
Als der Film „Trainspotting“ 1996 in die Kinos kam, war ich sechzehn. Bis auf den Titel und einige Schlüsselszenen, die an abgelegenen schottischen Bahnhöfen gedreht wurden, hat der Kultfilm über die schottische Drogenszene mit meinem Hobby eigentlich nichts zu tun. Aber spätestens dann war klar: Bahnhöfe üben eine wahnsinnige Faszination auf mich aus. Sie wurden zu meinem zweiten Zuhause und Züge beobachten eine meiner großen Leidenschaften.
Zwei Jahre zuvor wurden die Deutsche Reichsbahn (DR), wie die Staatsbahn in der DDR hieß, und die Deutsche Bundesbahn (DB) in Frankfurt/Main fusioniert, um daraus eine Aktiengesellschaft zu gründen. Es sollte der erste Schritt auf dem Weg an die Börse sein von einem Unternehmen, das zwar zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes, aber privatrechtlich organisiert war. Was zur Folge hatte, dass der deutsche Staat Schulden von DR und DB (AG) in Höhe von über 65 Milliarden Mark übernahm. Für mich als Bahn-Enthusiast steht seitdem fest: Bei der DB (AG) läuft so einiges in die völlig falsche Richtung.
„Auf Gleis 3 fährt der Zug ein“
Angefangen hat es mit meiner Oma. Ostern 1989 waren wir gemeinsam von Berlin-Zoo nach Hannover unterwegs. Für mich war das damals wie der Himmel auf Erden. Mit unserem Zug, den eine schwere, russische Diesellokomotive anschob, rumpelten wir fünf Stunden lang mit maximal 100 km/h über veraltete DDR-Schienen und mussten uns an der Grenze kontrollieren lassen. Auf der Strecke zählte ich die Telegrafenmasten aus der Kaiserzeit und fühlte mich wie im Wilden West… äh, Osten.
Heute interessiere ich mich als hobbymäßiger Trainspotter für die unternehmerischen Entscheidungen, weil sie vor paradoxen Entwicklungen nur so strotzen. In die drei klassischen Geschäftsfelder Fern-, Regio- und Cargo-Verkehr im Inland hat die Bahn weit weniger investiert als in ausländische Beteiligungen. Allein ihre britische Auslandstochter Arriva erwarb sie 2010 inklusive Schulden für rund 3,7 Milliarden Euro.
Außerdem besitzt die Bahn mit dem Essener Logistikunternehmen Schenker eine der größten europäischen LKW-Flotten. Als größtes Eisenbahnverkehrsunternehmen (!) in Mitteleuropa mit ausgefeiltem Fahrplan immer mehr Transportdienstleistungen von der Schiene auf die Straße zu bringen, kann selbst ich als Autofahrer nicht gutheißen.
Trauerspiel statt Modelleisenbahn
Jetzt wird es kompliziert: Während die Bahn finanziell für Erhaltungsmaßnahmen an den Strecken selbst aufkommen muss, bezahlt der Bund mit Steuermitteln Neubauprojekte wie „Stuttgart 21“ mit. Diese Regelung macht sich die Bahn zu eigen, indem sie alles auf Verschleiß fährt, anstatt zu sanieren, damit am Ende der Bund ran muss. Die Bahn profitiert so von überschüssigen Mehreinnahmen, ohne ins unternehmerische Risiko zu gehen, was sich unter anderem an steigenden Vorstandsgehältern bemerkbar macht.
Mitte der ’90er wurde der Schienenverkehr regionalisiert. Das heißt, die Bundesländer haben als Kunden beim Staatskonzern DB (AG) Nahverkehrszüge bestellt und mit Steuergeldern bezahlt. Trotz Mehreinnahmen wurden einige Regionen abgehängt. Fernverkehrsstrecken wie Chemnitz-Berlin und Berlin-Rostock galten zeitweise als unrentabel und wurden eingestellt beziehungsweise nur noch von Nahverkehrszügen befahren. Dafür, hieß es bei der DB (AG) stolz, entstanden Regionalexpressverbindungen wie Elsterwerda-Stralsund oder Frankfurt/Oder-Magdeburg. Wofür die Länder zur Kasse gebeten wurden.
Finanztechnisch kam man um Einsparungen trotzdem nicht herum. Von 1999 bis 2009, meinen manche, hätte der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn die Bahn auf „Gewinnkurs“ gebracht. Andere redeten von „Kaputtsparen“.
Während man sich für den Aufbau der eigenen Modelleisenbahn über jedes Detail freut, wollte man bei der DB (AG) Unnötiges loswerden: DB-Reisezentren wurden geschlossen, von rund 3.500 Bahnhofsgebäuden wurden 2.300 an privat verkauft und 500 verriegelt beziehungsweise den Kommunen überlassen. Zu dieser traurigen Entwicklung gehören doppelstöckige IC2-Züge, die unter Komfortgesichtspunkten mit ihren engen Sitzreihen und unverstellbaren Lehnen kaum mit besseren Nahverkehrswaggons mithalten können. Und von den Bord-Bistros in allen IC1-Zügen werden ab Dezember nur noch Snack-Automaten übrig sein.
Gelungene Modellversuche einer Nachnutzung, wie sie am Heidelberger Platz in Berlin mit der im Bahnhofsgebäude etablierten Diskothek Annabelle’s (heute Empire) verfolgt wurden, helfen den Verfall zu begrenzen. Letztes Jahr entschied die Bahn, keine Bahnhofsgebäude mehr herzugeben.
Mehr Daseinsvorsorge
„Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ Mit diesem selbstbewussten Werbeslogan und sogenannten Gleisläufern, die im Winter für befahrbare Schienen sorgten, versprach die Bahn in den ’70ern Verlässlichkeit. Davon kann man heute nur träumen, obwohl es spezialisierte Teams für Sturm, Schnee und Co. noch gibt.
Überraschend ist, dass sogar die Einführung eines undurchsichtigen Tarifpreissystems mit begrenzten Sitzplatzkontingenten, die eigentlich im Flugverkehr üblich sind, sich nicht wirklich negativ auf die Anzahl der Bahnkunden ausgewirkt hat. Spontane Buchungen zu Höchstpreisen nimmt man zähneknirschend in Kauf, wenn dank Neubahnstrecken wie zwischen Hannover-Berlin die Fahrzeiten halbiert werden, in diesem Fall von drei Stunden auf 90 Minuten.
Gleichzeitig nehmen Verspätungen massiv zu. 2009 waren 81 Prozent aller Züge maximal sechs Minuten „zu spät“, also pünktlich. Heute schaffen das 62,5 Prozent. Inzwischen umfasst das Schienennetz nur noch 33.469 Kilometer. Vor 20 Jahren waren es 35.593 Kilometer. Wie lange dieser vor Jahrzehnten erwirkte Abbau der Infrastruktur anhalten wird, lässt sich kaum absehen.
Ihre bestehenden Finanzprobleme will die Bahn bald durch einen Verkauf von Arriva und Schenker lösen. Ob das das „Ende einer Irrfahrt“ sein wird, wie das Manager Magazin prognostiziert, wird sich zeigen. An der Börse ist die Bahn nicht angekommen. Vielleicht wird auf Gewinnzahlen bald weniger geachtet. Sonst hat das Konzept der Daseinsvorsorge, zu der auch Verkehrsleistungen gehören, ausgedient.
Offenbar hat niemand in der Politik und bei der Bahn die Kraft oder den Mut, die Scherben neoliberaler Wirtschaftspolitik aus den 90er Jahren und darüber hinaus aufzukehren.