True Crime als Selbsthilfe
Mörderisch was auf die Ohren: Das schätzen Fans der sogenannten True Crimes-Podcasts. Doch laut der Wissenschaft bietet dieses Podcast-Genre mehr als nur einen unterhaltsamen Gruselfaktor.
Bei der Autofahrt ein Krimihörbuch, am Sonntag den Tatort und zum Einschlafen Die drei Fragezeichen: Krimis sind eines der beliebtesten Genres in Deutschland. Ein Blick in das Fernsehprogramm verdeutlicht: Man kann jeden Tag Krimiserien und -filme schauen. Auch in den Podcast-Charts haben sogenannte True Crime-Audiodokumentationen über echte Verbrechen und wahre Mörder eine regelrechte Vormachtstellung eingenommen. Wer deswegen hinter der Hörerschaft gewalttätige Kriminelle vermutet, irrt gewaltig.
Podcasts sind seit einigen Jahren das Trendmedium, das immer mehr an Bedeutung gewinnt. Fast jeder, der etwas auf sich hält, betreibt einen Podcast. Da überrascht es beim Durchscrollen der Audiothek seiner Wahl, wie oft in Podcast-Titeln ausgerechnet die Namen von Mördern und Verbrechern wie Sexualstraftäter Ted Bundy oder Serienkiller Charles Manson auftauchen. Während es 2017 drei neue True Crime-Formate wie zum Beispiel “Das Böse” gab, entstanden laut Süddeutscher Zeitung allein im Jahr 2022 zusätzliche 120 True Crime-Podcasts. Und unter den Top 20 der meistgehörten Podcasts fanden sich im April auf zehn Plätzen Crime-Podcasts – also die Hälfte.
Zum Sterben schön
War es Mord? Oder ein tragischer Unfall? Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Dass True Crime-Podcasts eine exklusive Position im Podcast-Markt haben, fällt bei der Optik auf. Während meistens Männer die Cover zieren, sind es bei True Crime-Podcasts ausgerechnet Frauen. Zu den in schwarz-weiß gehaltenen Porträtfotos tragen viele True Crime-Podcasts im Titel neben den Worten „Crime“, „Tod“ oder „Mord“ einen weiteren Hinweis auf die Zielgruppe: “schön“. True Crime-Podcasts lauschen vor allem junge Frauen zwischen 25 und 35 Jahren.
Eine Studie des Münchener Marktanalysten seven.one audio 2022 zum Nutzerinnenverhalten von True Crime-Hörerinnen in Deutschland fand heraus, dass Frauen unter den Fans dieses Formats über 90 Prozent ausmachen. Von den Befragten lauschten die meisten nach eigenen Angaben drei verschiedenen Podcasts. Jede zweite Hörerin schalte täglich True Crime-Podcasts ein. Weiterhin gaben die Teilnehmerinnen an, dass sie vor allem Verbrechen mit weiblichen Opfern und Reportagen über die Motive und Beweggründe der überwiegend männlichen Täter interessierten.
Doch warum genau geben sich vor allem Frauen dem Grusel eines True Crime-Podcasts hin? Coltan Scrivner, Verhaltensforscher am Recreational Fear Lab der dänischen Universität Aarhus, einem Institut, das den freizeitlichen “Grusel”-Konsum untersucht, vermutet, dass Männer sich ihren Adrenalinkick eher proaktiv mit waghalsigen Aktionen wie Extremsport holen, während Frauen sich lieber in einer bekannten Umgebung dosiert gruseln. „Die meisten konsumieren True Crime-Podcasts bei der Hausarbeit oder zum Einschlafen.“
Wenn Realität und Fiktion aufeinandertreffen
Wie schon im Jahr 2010 eine Untersuchung der University of Illinois bei Amerikanerinnen herausfand, bestätigte die aktuelle seven.one audio-Studie, dass von den 2.000 befragten deutschen True Crime-Fans 76 Prozent der Ansicht sind, durch den Konsum dieser Dokumentationen für ähnliche Situationen wie die in den Podcasts beschriebenen besser gewappnet zu sein. Gleichzeitig sagen sieben von zehn Befragten, dass sie aufgrund des True Crime-Contents Menschen inzwischen eher Gewaltverbrechen zutrauen.
Insbesondere Frauen haben Angst, Opfer von Mord oder Entführung zu werden. Obwohl offiziellen Kriminalstatistiken zufolge die meisten Gewaltverbrechen im persönlichen Umfeld stattfinden, ist die Furcht, durch Fremde in Gefahr zu geraten, nicht unbegründet. Alle 72 Stunden wird eine Frau in Deutschland durch einen Mann ermordet. Bei Gewaltverbrechen sind die meisten Täter Männer, die meisten Opfer Frauen. So auch in den True Crime-Podcasts. Daher ziehen Forscher wie Scrivner in Betracht, dass Hörerinnen True Crime-Podcasts zu einer Art Selbsthilfe-Ratgeber umfunktionieren: Sie würden sich in den beschriebenen Frauenfiguren wiedererkennen und Szenarien entwickeln, wie sie selbst in vergleichbaren Momenten agieren sollten. Gerade die weibliche Hörerschaft empfindet Umfragen zufolge Mitgefühl mit den Opfern. Gewalttätiger sind True Crime-Fans also eher nicht.
Der ungewöhnliche “Lehrstoff“ zu Hintergründen und Ermittlungsergebnissen ist vermeintlich endlos, denn nicht nur in ihren True Crime-Fällen sind die Podcasts überraschend vielfältig. Ob „Crime and Puppies“: Krimis und Hundewelpen, in dem Fall leistet Hund Olaf den Podcasterinnen Gesellschaft; „Weird Crimes“: seltsame und absurde Wirtschaftsverbrechen, bei denen es um „Macht und Millionen“ geht… das Format hat viele abwechslungsreiche und ungewöhnliche Facetten. True Crime-Podcasts können insofern nicht nur spannend oder gruselig, sondern durchaus auch unterhaltsam sein.
Also Ladys: Kopfhörer auf die Ohren, einen spannenden True Crime-Podcast an – und am besten das Licht anlassen, damit es nicht zu sehr gruselt.