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Vergessenskultur: Warum wir Krisen und Katastrophen verdrängen

Von Diana Knezevic / 15. Januar 2015
picture alliance / allOver/MEV | Karl Thomas

Noch liegen vereinzelt Sektkorken, Böller und Glasscherben der Silvesternacht auf den Straßen deutscher Großstädte und zeugen von einem bombastischen Fest. Aber was haben wir eigentlich gefeiert? Eine Welt voller Krisen und Katastrophen, die wir allzu schnell verdrängen und vergessen.

Das war 2014 in Kurzform: Flüchtlingsdramen, Seuchen, Kriege, Naturkatastrophen und eine neue Deutschtümelei. Der IS in Syrien auf dem Vormarsch, die Schlacht um Kobane, Raketen im Gazastreifen und in Israel. 100.000 Flüchtlinge vor Lampedusa, 5.000 davon qualvoll ertrunken im Mittelmeer. Ebola in Westafrika. Der Ukraine-Krieg und der daraus resultierende Konflikt zwischen Moskau und dem Westen. Ein abgeschossenes Passagierflugzeug mit 298 getöteten Zivilisten. PEGIDA.

Zweifelhafte Halbwertszeit von Nachrichten

Warum widmet das Gros der deutschen Medien dem Thema Ebola ausgerechnet jetzt die geringste Aufmerksamkeit, wo die Epidemie mit 20.000 Infizierten und über 8.000 Toten die höchste Anzahl von Opfern erreicht hat? Warum sinkt unsere Spendenbereitschaft in dem Moment, in dem die Zahl der Flüchtlinge in den Zeltlagern an den syrischen Grenzgebieten zur Winterzeit dramatische Ausmaße angenommen hat und besonders viele Menschen sterben? Und was ist eigentlich aus Kobane, aus den entführten, vergewaltigten und versklavten Mädchen und Frauen geworden?

Kollektive Vergessenskultur und Krisen-Alzheimer

Falls Sie die Auflistung der oben genannten menschlichen Tragödien kaum noch ertragen, dann leiden Sie vermutlich ebenfalls an den Symptomen der allgegenwärtigen Vergessenskultur. Es scheint ganz so, als kursiere eine kollektive Polit-Demenz, die geprägt wird durch eine neue Netzdemokratie. Für die Bereinigung unseres Gewissens arbeiten wir Missstände und Katastrophen wie auf einer To-Do-Liste mit der eigenen Unterschrift bei change.org, Campact & Co ab. Die Teilnahme an solchen Petitionen legitimiert, dass wir uns anschließend wieder bei Facebook in Gefälligkeit üben und Essensfotos liken. Dabei vergessen wir sogar, dass wir uns kürzlich unbedingt bei Facebook abmelden wollten.

Jäger und Sammler von Informationen

Paradoxerweise leben wir in einer digitalen Welt, in der wir alle zu Jägern und Sammlern von Informationen geworden sind. Nie zuvor hatten wir Zugriff auf so viel Wissen, nie war Speicher so günstig oder gar umsonst, und unser neuer Freund, das digitale Gedächtnis, vergisst sowieso nichts. Früher haben wir das aufbewahrt, was uns wichtig schien: Fotos, Liebesbriefe, Platten, Bücher, selbst Zeitungsartikel. Heute bewahren wir alles auf, einfach weil es kostenlos ist. Das aber beeinträchtigt die Nachhaltigkeit und die Intensität, mit der wir Informationen verarbeiten.

Doch gerade in der jetzigen Zeit sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Wissen kein Wettkampf ist. Nicht derjenige, der am meisten speichert, hat einen Vorsprung, sondern derjenige, der in die Tiefe geht, die Zusammenhänge versteht und in einem größeren Kontext zu deuten vermag. Warum aber können wir uns ausgerechnet die größten Katastrophen kaum noch merken? Ertragen wir es nicht mehr, so viel von der Welt zu wissen? Oder verspüren wir ein passives Kriegs-Burnout allein durch die Rezeption der Nachrichten im Fast-Forward-Modus?

Verkürzung der Aufmerksamkeitsspannen

„Die immer kürzer werdenden Zyklen in der Krisenberichterstattung haben mehrere Gründe,“ so der Redaktionsleiter und Moderator des Politmagazins Monitor, Georg Restle. „Vor allem die sich stetig beschleunigende Verbreitung über das Internet und die sozialen Netzwerke, die damit einhergehenden Veränderungen von Reizschwellen und die Verkürzung der Aufmerksamkeitsspannen wirken einer nachhaltigen Berichterstattung entgegen.“

Der Moderator vertritt die Auffassung, dass investigativer und damit auch nachhaltiger Journalismus für viele Verlage und Sender ein Kostenfaktor ist, den sie sich nicht mehr leisten wollen. Hohe Marktanteile würden eher durch kurzfristig ins Programm genommene Brennpunkte um 20:15 Uhr als durch vertiefende Dokumentationen um 23:30 Uhr erreicht. „Diese Form der Kommerzialisierung der öffentlich-rechtlichen Sender, die sich zunehmend als gewinnorientierte Unternehmen verstehen und immer weniger als demokratische Institutionen, trägt wesentlich dazu bei, dass Nachhaltigkeit in der Berichterstattung verloren geht“, sagt Restle.

Das Interessante schlägt das Relevante

Die Gewichtung von Nachrichten habe sich zudem verändert. „Nicht mehr das Relevante zählt, sondern das Interessante.“ Es gehe mehr um die Nachricht als Gesprächsstoff und weniger um politische Tragweiten oder tatsächliche Betroffenheit. „Die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer steht auf einer Ebene mit den Trennungsgeschichten von Fußballspielern. Die Ausbreitung des Ebola-Virus wird verdrängt durch den Hygiene-Skandal bei Burger-King“, fasst Restle den heutigen Umgang mit Informationen zusammen.

Kein Wunder: Arbeit und Freizeit verlangen uns ein Höchstmaß an Multitasking-Performance ab. Da wir jeden Tag aufs Neue Prioritäten setzen müssen, rattern wir selbst schon wie die Laufwerke unserer Computer durch das Weltgeschehen. Die Überflutung durch Nachrichten aus vielfältigen und teils dubiosen Quellen führt zum Konflikt: Wenn ich sofortigen Zugriff auf „alles“ habe, muss ich auch ständig aus diesem Wust das für mich Wichtige selektieren. Deshalb entwickeln wir Strategien des Weglassens, des Ausblendens und Vergessens. Ein Zeugnis dafür, dass uns der Tod vieler unschuldiger Menschen in Krisenregionen am Ende einfach nicht wichtig genug erscheint.

Tod als Erinnerungsmüll

Der Tod dieser Menschen wird zum Erinnerungsmüll. Das Sterben von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern verkommt zum medialen Sekundentod, ob in Afghanistan, Syrien, Nigeria, in der Ukraine – oder in Paris. Unsere Informationsgesellschaft zwingt uns förmlich zu einer berufsmäßigen Hektik. Wir hecheln von einem Krieg und von einer Katastrophe zur nächsten und verlieren dabei jede Verhältnismäßigkeit.

Richtig bedroht fühlen wir uns ja erst, wenn das Elend zu uns kommt. Wir fürchten die Flüchtlinge an den Grenzen der EU und die Flugzeuge aus den von Ebola betroffenen Gebieten, die Infizierte nach New York oder nach Europa gebracht haben. Dann bricht Panik aus. Dann bekommt das Drama eine neue Dimension, wegen derer Unternehmen und Touristen gleich ganz Afrika meiden. Freunde von mir entschieden sich zum Beispiel unlängst gegen eine Kapstadtreise zugunsten eines Trips ins klinisch unbedenkliche Skandinavien.

Dumme Displays

Der gesundheitlichen, menschlichen Tragödie fügen wir so noch ein wirtschaftliches Fiasko für die Betroffenen hinzu. Der gesamte afrikanische Kontinent leidet unter unserer scheinheiligen Anteilnahme. Claus Kleber präsentierte im Heute Journal am 12. Dezember 2014 eine Landkarte gegen die schleichende Kultur des Vergessens und hielt ein Plädoyer für den reflektierten Umgang mit Ebola.

Er zeigte, dass Guinea, Sierra Leone und Liberia näher an Frankfurt liegen als an Kapstadt. Die Botschaft: Der afrikanische Kontinent ist größer als uns die dummen Displays unserer technischen Geräte mit dem Bildausschnitt der Krisenregion suggerieren. Wir können in Afrika arbeiten und Urlaub machen, denn unsere Ängste sind unberechtigt. Es ist völlig in Ordnung, technische Geräte zur Informationsbeschaffung einzuschalten, aber es wäre wünschenswert, das eigene Hirn nicht gleichzeitig auszuschalten.

Das analoge Leben wird vernachlässigt

Weil wir die Welt immer mehr durch den digitalen Filter wahrnehmen, verkümmert das analoge Leben. Auf „Gefällt mir“ zu klicken, wenn ein Freund auf Facebook einen gesellschaftspolitischen Missstand anprangert, ändert noch nichts an dem Missstand selbst.

„Als gewissenhafte Mitglieder der Gesellschaft sehen viele Menschen es als ihre Pflicht an, gut und vor allem über Aktualitäten informiert zu sein“, sagt Philip Kramer von der Excellence Foundation der Universität Zürich. „Was konkret die Motivation dahinter ist, sei dahingestellt. Ich wage die Annahme, dass der Beitrag der einzelnen Menschen, die Welt zu verbessern, sich dadurch nur in den wenigsten Fällen steigert.“

Jeder ist sein eigener Journalist

Für das schnelle Vergessen von relevanten Nachrichten und die Verbreitung von gefährlichem Halbwissen macht Monitor-Chef Restle auch die Tatsache verantwortlich, dass „in den Weiten der sozialen Netzwerke jeder sein eigener Journalist ist, der um Aufmerksamkeit buhlt. Die Rolle des Journalisten als Gatekeeper geht dabei verloren. Die Einordnung bleibt dem User überlassen, der zugleich Produzent geworden ist.“

Die daraus resultierende Unübersichtlichkeit betreffe nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der „Berichterstattung“. Gerüchten und Verschwörungstheorien würden so Tür und Tor geöffnet. „Gleichzeitig werden diese Mechanismen von politischen Akteuren genutzt.“ Deshalb will Restle nicht von einer Vergessenskultur sprechen, „sondern eher von einer Unkultur der politischen Klasse, die darauf setzt, dass Skandale heute in viel kürzerer Zeit ausgesessen werden können als noch zu Zeiten eines Helmut Kohls.“ 

Skandale und Katastrophen zu verdrängen oder zu vergessen, ist allzu menschlich. Dabei handelt es sich um einen biologisch evolutionären Schutzmechanismus, der es uns ermöglicht, weiter voranzuschreiten. Doch weder Resignation noch die neue Netzdemokratie tragen langfristig zur Konfliktlösung bei. Bei der Resignation scheitern wir ungesehen. Bei der Netzdemokratie scheitern wir öffentlich. Zwar tun wir mit unserer Unterschrift unsere Meinung kund. Aber ändert das etwas? Wegen meiner Unterschrift hat noch niemand aufgehört, Bomben zu werfen.

Die Kunst des Fokussierens

Selbstverständlich kann niemand von uns nebenher kurz die Welt retten. Aber vielleicht kann jeder von uns ein Menschenleben verbessern, denn die Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Die Kunst liegt nicht im Vergessen, Verdrängen oder Ausblenden von Problemen, sondern in der Fokussierung auf ein Krisengebiet oder auf eine Opferfamilie, so wie wir uns auch beruflich spezialisieren oder privat in der Partnerschaft festlegen. 

Warum nutzen wir unsere moderne Kommunikationstechnologie und die stetig wachsende Gemeinde der Netzdemokraten nicht einmal, um zu den Betroffenen der Krisen persönlichen Kontakt aufzunehmen?

Fatebook statt Facebook

Wir vernetzen uns ständig und überall, unterzeichnen Petitionen, wo wir können. Wir brüsten uns damit, in einer globalisierten Welt zu leben und haben Freunde auf allen Kontinenten. Facebook hat mittlerweile fast 1,4 Milliarden Nutzer weltweit, Tendenz weiter steigend. Nur über ein Netzwerk für traumatisierte Zivilisten in Kriegsregionen und hilfsbereite Menschen im befriedeten Rest der Welt hat noch niemand nachgedacht. Wir sollten die digitale Welt nutzen, um ein Fatebook zu initiieren, statt unsere Zeit bei Facebook zu vergeuden. Denn so könnte es ein Leichtes werden, den Bedürftigen konkret zu helfen.

Auch in Afghanistan gibt es Handys. Auch in den von Ebola betroffenen Gebieten gibt es Computer. Diese Menschen sind nur eine Email entfernt! Die simple Frage, die wir ihnen stellen müssen, lautet: What do you need exactly? Das könnte schon den Unterschied machen. Und dann nix wie ab zur Post oder zum Deutschen Roten Kreuz mit einem Paket voller Mehl, Socken, Tabletten, Kondome und Spielsachen.

Vielleicht entwickeln sich aus den digitalen Kontakten analoge Freundschaften und die Menschen in den Krisenregionen spüren endlich Hoffnung. Dann könnten sie auch spüren, dass wir sie doch nicht vergessen haben.

Eine Antwort zu “Vergessenskultur: Warum wir Krisen und Katastrophen verdrängen”

  1. Von Sven am 16. Januar 2015

    „Und dann nix wie ab zur Post oder zum Deutschen Roten Kreuz mit einem Paket voller Mehl, Socken, Tabletten, Kondome und Spielsachen.“

    Das macht mir Bauchschmerzen. Nicht, weil ich denen diese Dinge nicht gönne, sondern weil das die Wirtschaft, die dort eh schon schlecht funktioniert, wieder in eine Konkurrenz zu unserer stellt. Wenn man den Menschen dort helfen will, dann mit Geld. Warum? Weil das Geld dort zirkulieren kann, weil man mit dem Geld nicht nur einer Person hilft, sondern mehreren. Weil es die Grundlage für das Einkommen mehrerer Menschen dort ist. Hört sich vielleicht blöd an, aber es macht eben einen Unterschied, ob das Geld hier ausgegeben wird, oder ob es in den Krisenregionen ausgegeben wird. So wie hier der Händler von den Einnahmen den Lohn von seinen Mitarbeitern zahlt, so zahlt der Händler auch in den Krisenregionen das Gehalt davon, oder ernährt seine Familie davon. Wenn ich die Waren hier kaufe und dort hin schicke, dann hat zwar der Empfänger was davon, aber dem Händler vor Ort gehen wieder Einnahmen verloren, es ist also nicht nachhaltig.

    Wenn sich dort etwas ändern soll, dann brauchen dort viele Familien Geld, dass sie in eine Zukunft investieren können. Was könnte also wirklich helfen? Es könnte helfen, wenn wir unseren Kaffee direkt beim Kleinbauer in Afrika bestellen, damit dieser einen größeren Kuchen vom Gewinn abbekommt. Das würde aber wieder bedeuteten, dass die vielen Menschen, die auch hier in Europa dadurch ihren Lebensunterhalt bestreiten, leer ausgehen und in die Armut abrutschen. Was also machen? Nur die einen Teil des Kaffees direkt bestellen und den anderen Teil hier kaufen? Oder vielleicht doch endlich die Systemfrage stellen?

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