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Was passiert nach einem Verbrechen?

Von Hannah Jäger / 28. Juni 2023
picture alliance / fStop | Caspar Benson

Ein Gerichtsprozess, ein Urteil, eine Gefängnisstrafe, aber viele offene Fragen. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber wie können schwere Straftaten verarbeitet oder gar wiedergutgemacht werden? Hier setzt die “Justice restaurative“, die “wiedergutmachende Justiz“, an.

Das Konzept der Justice restaurative bietet Opfern und Tätern den Raum, Fragen zu stellen – sofern beide das möchten. Immer mehr Rechtsordnungen beinhalten solche Elemente. In Frankreich ist das Recht darauf für Opfer und Täter eines Verbrechens seit 2014 gesetzlich festgeschrieben. Den Antrag auf eine Mediation oder eine Gruppensitzung können sowohl Opfer als auch Täter stellen. Was genau es damit auf sich hat, klären wir in einem Interview.

sagwas: Déborah, Sie haben regelmäßig unmittelbar mit Straftätern zu tun, was für mich beklemmend wäre. Wie geht es Ihnen damit?

Déborah Caicedo Agudelo: Ich habe kein Problem damit. Täter haben zwar eine Straftat begangen, sind aber gleichwohl Menschen, die ebenso wie das Opfer ein Recht auf den Zugang zur Justice restaurative haben.

Ich denke, es ist für mich einfacher, weil ich weiß, dass diese Menschen dies mit dem Wunsch der Wiedergutmachung und der Verständigung tun. Es ist eine schöne Rolle, diese Personen bei ihrem inneren Prozess, die Vergangenheit zu bewältigen und Verantwortung für die Tat zu übernehmen, begleiten zu können.

Welche Arten von Justice restaurative gibt es dafür?

Zum einen gibt es die sogenannte Méditation restaurative, die ein Austausch zwischen dem Täter und seinem Opfer ist. Zum anderen gibt es Gruppentreffen. Dabei treffen sich mehrere Täter und mehrere Opfer fünf Mal. Dabei handelt es sich aber nicht um Personen, die von demselben Fall betroffen sind, sondern um Menschen, die Opfer derselben Art von Verbrechen geworden sind.

Ist es ein Privileg, an einer Maßnahme der Justice restaurative teilzunehmen?

Nein, alle Betroffenen eines Verbrechens haben das Recht, kostenlos an einer Mediation oder an Gruppentreffen teilzunehmen. Aber in der Realität wenden sich eher Täter und Opfer von schweren Straftaten wie brutale Gewalt, sexuelle Gewalt, Inzest, manchmal sogar Mord an uns. Diese Praxis ist unabhängig vom Gerichtsverfahren, das ja nur verhandelt, ob jemand schuldig ist, aber keinen Raum für einen Dialog bietet.

Déborah Caicedo Agudelo, 26, hat Strafrecht und Internationales Recht studiert. An der Universität lernte sie die Justice restaurative auf internationaler Ebene kennen, die bereits in bewaffneten Konflikten eingesetzt worden war. Nach einem Praktikum im Institut Français pour la Justice Restaurative, arbeitet sie dort nun seit einem Jahr als Koordinatorin der Außenstelle Südost. Dabei unterstützt und vernetzt sie Fachpersonal. Daneben leitet sie selbst Mediationen. (Foto: privat)

Von wem geht die Anfrage auf eine Mediation in der Regel aus – Täter oder Opfer?

Genau lässt sich das nicht sagen, aber es ist ungefähr 50:50. Wer von dem Recht auf eine Mediation weiß, interessiert sich meist auch dafür. Leider ist das aber immer noch recht unbekannt. Man hat mit Justizpersonal zu tun, die dieses Recht nicht kennen und die Rechtsuchenden nicht über diese Möglichkeit informieren. Aber das wird besser.

Wie bereiten Sie Opfer und Täter auf diese Begegnung vor?

Die Vorbereitung ist tatsächlich sehr wichtig. In der ersten Phase erhält man eine Anfrage, sei es von Seiten des Opfers oder des Täters. Man trifft die Person dann, sieht, welche Erwartungen sie hat, was sie möchte, und stellt sicher, dass sie verstanden hat, was die Justice restaurative leisten kann – und was nicht.

Dann tritt man mit der anderen Seite in Verbindung. Wenn diese einverstanden ist, bereitet man beide Personen getrennt voneinander auf das Treffen vor, bespricht Szenarios und findet heraus, wie die Personen auf das Treffen reagieren könnten. Die Aufgabe als Mediator ist es, sicherzustellen, dass beide Personen dazu befähigt sind, sich dieser Situation auszusetzen. Wenn man Zweifel hat, erklärt man der Person, die man begleitet, dass ein Treffen nicht möglich ist, um zum Beispiel eine Retraumatisierung zu vermeiden.

Die zweite Phase ist die Auseinandersetzung vor Ort mit dem Mediator als Moderator oder der Austausch findet per Brief, Telefon oder Video-Konferenz statt. Nach dem (ersten) Treffen zieht der Mediator, jeweils mit Täter und Opfer allein, Bilanz. Dabei muss er sich vergewissern, dass es den Teilnehmenden weiterhin gut geht und falls sie psychologische Hilfe benötigen, dass sie diese erhalten.

Wie viel Zeit nimmt diese Vorbereitung in Anspruch?

Hinter einer einzelnen Begegnung stehen 20 bis 30 Arbeitsstunden, um die psychische Stabilität der Teilnehmenden zu gewährleisten. Die Personen stehen im Mittelpunkt der Mediation, ihnen gelten die Maßnahmen, deshalb geben wir kein Tempo vor. Alles dauert so lange, wie sie dafür brauchen.

Wie wurden Sie selbst in Ihrer Ausbildung auf diese Aufgabe vorbereitet?

Wir sind alles Fachleute, die in der Justiz arbeiten. Wir haben eine 60-stündige Ausbildung zum Mediator erhalten. In dieser Ausbildung liegt ein Fokus auf der Haltung, der Methodik, aber vor allem auf den psychosozialen Faktoren. Aber auch Ehrenamtliche können sich bei Gruppensitzungen engagieren und die Mediatoren und Teilnehmenden unterstützen.

Kann ein Mord oder eine Vergewaltigung mithilfe der Justice restaurative wiedergutgemacht werden?

Nein, tatsächlich wiedergutgemacht können diese Art von Verbrechen durch die Justice restaurativenicht. Aber sie kann durch den Dialog einigen Menschen dabei helfen, dass die seelische Verletzung ansatzweise heilen kann.

Hilft diese Praxisalso eher dem Opfer als dem Straftäter?

Das ist sehr individuell. Ich würde sagen, dass es sowohl auf der Seite des Täters als auch auf der Seite des Opfers positive Auswirkungen gibt. Auf der Seite des Opfers höre ich oft: „Endlich kann ich ihm das sagen, was ich ihm sagen möchte.“ Und es kann ihm Fragen stellen wie zum Beispiel „Warum ich?“ Oder „Ich verstehe es nicht.“ Und es hilft auch, den anderen nicht mehr als Monster zu sehen, ihn zu rehumanisieren.

Bei dem Täter geht es vor allem darum, sich den Auswirkungen seiner Straftat bewusst zu werden, die Aussagen der Opfer zu hören; bei manchen Tätern erzeugt dies erstmals ein Gefühl der Verantwortung.

Kommt es in den Mediationen zu einer Entschuldigung des Täters beim Opfer?

Die Justice restaurative zielt darauf ab, einen Raum für einen Dialog zwischen Täter und Opfer zu schaffen, damit diese über die Auswirkungen des Verbrechens sprechen können. Einen Austausch, wie man ihn in einem vorgegebenen Straf- oder Gerichtsverfahren nicht hat. Das Ziel als solches besteht nicht unbedingt darin, um Entschuldigung zu bitten oder diese zuzulassen. Natürlich versucht man, die Beteiligten in die Lage zu versetzen, Vergebung zu erfahren oder zu gewähren, aber das ist nicht das Ziel der Mediation. Das entscheiden die Teilnehmenden selbst. Das Ziel ist der Dialog an sich. Für offene Fragen, für Heilung in einem geschützten Rahmen.

(Hier das Original auf französisch: https://sagwas.net/quest-ce-que-se-passe-t-il-apres-un-crime/)

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