Wenn Verlust dein Begleiter ist
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Das hier ist der Text, den ich mir damals zu lesen gewünscht hätte. Von dem ich mir wünsche, dass ich ihn nicht gebraucht hätte. Doch Menschen sind sterblich, auch die eigenen Eltern. Bei manchen sterben sie (zu) früh – wie bei mir. Und Halbwaise sein kann ziemlich einsam machen.
An alle, die das erleben mussten: Du bist nicht allein! Was dir widerfahren ist, ist furchtbar, ist unerträglich. Du wirst immer wieder Momente erleben, in denen dich deine Emotionen überrollen. In denen dich ein Foto, Song oder Geruch an deine Mutter oder deinen Vater erinnern. In denen Bilder in deinem Kopf entstehen, die wehtun. Aus einer Zeit, die nicht wiederkommt.
Ich erinnere mich, wie ich Monate nach dem Tod meines Vaters in der U-Bahn saß, und jemand so roch wie er. Ich bin in Tränen ausgebrochen.
Irgendwann findet man Wege, der Trauer Raum zu geben. Findet Orte, wo man trauern kann. Trifft Menschen, die einen verstehen. Hört Lieder und liest Zeilen, die einem helfen, seine Emotionen rauszulassen.
Den Verlust immer im Gepäck
Der Verlust verschwindet nie, er wird dein Begleiter. Dein verstorbenes Elternteil wird nicht dabei sein, wenn du dein Studium abschließt, den ersten Job anfängst, selbst Mutter oder Vater wirst. Doch irgendwann wird dich die Trauer nicht mehr eiskalt erwischen.
Der Verlust wandelt sich vom Parasiten, der dir unaufgefordert in den Alltag reingrätscht, zum Teil deiner Erinnerung. Monate oder Jahre später wirst du deine Gedanken sortiert, dem Verlust Raum geschaffen haben, sodass er nicht mehr hinterrücks wie eine Push-Benachrichtigung aufploppt. Ich habe meiner Trauer, acht Jahre nach dem Tod meines Vaters, den journalistischen Teil meiner Masterarbeit gewidmet. Das Schreiben half mir.
Als der Anruf kam, war ich mit dem Rucksack in Südostasien unterwegs. Es war schon dunkel. Ich glaube, ich saß am Fenster, im Bus, irgendwo zwischen Südthailand und Georgetown, Malaysia. „Mutter“ erscheint auf dem Smartphone Display. Meine Mutter ist Alkoholikerin. Wieso ruft sie mich an? Was will sie von mir? Ich will meine Ruhe. Sie hatte vor meiner Abreise wieder gesoffen. Vielleicht ist sie jetzt besoffen. Vielleicht ruft sie an, weil sie besoffen ist und mich vermisst. Ich gehe ran. Sie ist nüchtern. Ihre Stimme bricht: „Es ist was passiert.“ Tränen laufen mir über die Wangen. In Gedanken flehe ich: nicht Oma, bitte nicht Oma, bitte nicht Oma. Und dann: „Dein Vater ist tot.“ Ein Sekundenbruchteil Erleichterung – Oma lebt noch. Dann Taubheit. Mein Vater ist tot. Die Tränen fließen weiter. Mein Vater war 40, als er starb. Die Polizisten vermuteten, dass es Suizid war. Er wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Auf seinem Tisch lagen leere Pillenpackungen.
Auf Bali kaufe ich vor meinem Rückflug ein Kleid, schulterfrei, oben schwarz, unten flattert dunkelblau-lila Stoff. Ich trage es zwei Wochen später im Oktober 2015 auf dem Waldfriedhof in Heidenheim. Bei der Beerdigung meines Vaters bin ich 21 Jahre alt.
Mein Leben nahm vor diesem Anruf gute Wendungen. Ich hatte meinen Traumstudienplatz bekommen, wollte nochmal mit dem Rucksack unterwegs sein, bevor mein Bachelor in Berlin losging, fühlte mich optimistisch, unbesiegbar.
Mittlerweile habe ich Freunde, die älter sind als mein Vater je sein wird. Mittlerweile habe ich mit meiner Therapeutin in vielen Stunden über meine Gedanken gesprochen und sie sortiert. Was auch half, waren Gespräche mit Menschen, die diese schreckliche Erfahrung teilen.
Wer will sich schon mit der Sterblichkeit der Eltern auseinandersetzen?
Mit dem frühen Tod eines wichtigen Menschen ändert sich der Blick auf das eigene Leben. Die Sterblichkeit, dieses ungemütliche Thema, mit dem man sich Anfang 20 wirklich nicht beschäftigen möchte, ist plötzlich aktuell. Mein Erbe – seine Schulden – schlage ich aus. Ich beantrage Halbwaisenrente. Jede Halbwaise erhält sie bis zum 18. Lebensjahr und bis zum 27, wenn er oder sie noch in Ausbildung ist oder studiert.
Ich kann nachvollziehen, dass junge Menschen das Thema so lange wie möglich vermeiden möchten. Wer will sich schon mit dem Tod der Eltern auseinandersetzen, vor allem, wenn diese noch jung sind? Die Eltern der meisten meiner Kommiliton:innen und Freund:innen leben damals im Jahr 2015 noch. Für sie standen Studium und Selbstfindung im Vordergrund, für mich Tod und Trauer.
„Und, was machen deine Eltern so?“ Ist für mich seither keine unverfängliche Frage, sie löst in mir einen inneren Monolog aus: Wenn ich ausführlich antworte, dann ist mein Gegenüber womöglich überfordert. Aber ich will es ja nicht verschweigen. Oder schäme ich mich, dass mein Vater tot ist? Vielleicht fehlt mir aber auch die Fähigkeit, das in Worte zu fassen, was ich selbst noch nicht richtig begreifen kann? Weil ich mich zu jung für den Scheiß fühle? Ich will nicht überfordern, kein Unbehagen auslösen.
Während ich das reflektiere, fühle ich mich alt. Wie jemand, der andere, die gerade noch Kinder waren, vor dem Leid in der Welt beschützen möchte. Dabei war ich damals selbst fast noch ein Kind.
Dankbarkeit empfand ich gegenüber Freunden, die von sich aus nachfragten. Die mir das Gefühl schenkten, mit diesen starken Gefühlen nicht lästig oder anstrengend zu sein. Mit der Zeit sprach ich mehr über meinen Verlust, integrierte, akzeptierte ihn.
Meine taz-Kollegin Nora Belghaus zitierte in ihrem berührenden Text über den Tod ihrer Mutter, die Autorin Joan Didion: „Life changes fast, life changes in the instant. You sit down to dinner and life as you know it ends.“ Gegen Ende ihres Artikels schreibt sie: „Der Alltag ohne Mama nimmt langsam Konturen an, und dem Tod habe ich einen Platz in meinem Leben eingeräumt, dort, wo vorher eine Leerstelle war.” Ich nicke, während ich ihre Worte lese. Der Verlust bleibt. Doch irgendwann akzeptiert man ihn, findet man Worte für das Unaussprechliche. Und wird so zu einem Menschen, der für andere die Worte hat, die man damals selbst gern gehört hätte.