Wider die Maulkorbdemokratie
Jeder hat das Recht auf eine andere Meinung, sagt das Grundgesetz. Jeder hat die Pflicht, sich der Mehrheitsmeinung unterzuordnen, sagen die Fraktionschefs im Bundestag. Die „Maulkorb-Reform“, die Einschränkung des Rederechts für Bundestags-Abgeordnete, ist zwar vorerst vom Tisch. In Wahrheit gibt es den Maulkorb aber längst, meint Christian Stahl. Und alle machen mit. Liebe Leserschaft, ich […]
Jeder hat das Recht auf eine andere Meinung, sagt das Grundgesetz. Jeder hat die Pflicht, sich der Mehrheitsmeinung unterzuordnen, sagen die Fraktionschefs im Bundestag. Die „Maulkorb-Reform“, die Einschränkung des Rederechts für Bundestags-Abgeordnete, ist zwar vorerst vom Tisch. In Wahrheit gibt es den Maulkorb aber längst, meint Christian Stahl. Und alle machen mit.
Liebe Leserschaft, ich möchte mich gleich zu Beginn bei Ihnen entschuldigen, da mein Text etwas staubtrocken, parargraphenhaltig und staatstragend daherkommt.
Immerhin: Ihnen offen und ehrlich meine Meinung über die Meinungsunterdrückung im Bundestag zu sagen, wird nicht seit 10 Jahren von der Carta-Redaktion verhindert. Mir droht auch nicht der Entzug des Presseausweises, der Ausschluss aus der Redaktion oder ein Disziplinarverfahren seitens der Herausgeber. „Ich will Deine Fresse in meinem Blog nicht mehr sehen“, hab ich auch noch nie gehört, wenn ich in Sachfragen anderer Meinung als die Redaktionsmehrheit war.
All das mussten und müssen Abgeordnete des Deutschen Bundestages ertragen, nur, weil sie anderer Meinung sind. Drei Beispiele:
- Wolfgang Bosbach, einst treuester Wasserträger der Kanzlerin, wurde von Kanzleramtsminister Pofalla wegen seiner Kritik am Euro-Rettungsschirm offen angegriffen: „Ich will Deine Fresse nicht mehr sehen.“ In Fraktionssitzungen wurde Bosbach nahegelegt, doch mal ein Mikrofon auszulassen.
- Hans Christian Ströbele wird seit 10 Jahren von der grünen BT-Fraktion von der Rednerliste gestrichen, wenn es um den Afghanistan-Einsatz geht, da seine Meinung nicht „passt“. Ein Antrag auf der grünen Bundesdelegiertenkonferenz 2011 in Kiel, das zu ändern, wurde wieder zurückgenommen.
Geschmäht, isoliert und am Ende ihrer fraktions- und parteiinternen Karriere sind Abgeordnete mit eigener Meinung sowieso. Dabei ist das Recht, anders zu denken, einer der Grundpfeiler unserer Demokratie. Ausgerechnet im einzigen direkt vom Volk gewählten Verfassungsorgan, dem deutschen Parlament, wird dieses Grundrecht immer wieder ausgehebelt. Das gefährdet nicht nur unsere Demokratie. Das höhlt sie aus.
Fast schon resigniert bringt Hans Christian Ströbele auf seiner Homepage das gefährliche Spiel Macht vs. Meinung auf den Punkt:
„Der Name ,Parlament‘ kommt vom lateinischen parlare, das heißt ,reden‘. Die Parlamentsabgeordneten sind also zum Reden im Parlament da. Wenn ich dort nicht reden darf, kann ich gleich zu Hause bleiben und per Mail abstimmen. An der Meinungsbildung im Parlamentsplenum soll ich ja möglichst nicht mitwirken, höchstens durch Beifallklatschen. Abweichler von den Fraktionsmeinungen sollen diszipliniert werden.“
Ja, aber ohne Ordnung und Regeln und die damit verbundenen Nebenwirkungen geht es doch nicht, würden mir die Fraktionschefs, aber auch viele Journalisten entgegenhalten. Außerdem ist die Hälfte der Abgeordneten über Listen ins Parlament eingezogen und vertritt damit das Wahlprogramm ihrer Partei, nicht abweichende Meinungen. Und überhaupt: Politik ist nun mal die Kunst des Kompromisses, und Unterordnung unter die Mehrheitsmeinung gehört zum demokratischen Prozess. Alles andere ist naiv. So ähnlich argumentiert anlässlich der Maulkorb-Debatte auch Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Von Fraktionen stünde zwar nichts im Grundgesetz, aber ohne Fraktionen funktioniere es nicht. Abgeordnete hätten durch die Existenz der Fraktion ja schließlich den Vorteil der Meinungsmultiplikation. Daher müssten sie Nachteile auch in Kauf nehmen:
„Dazu gehören auch die Rederegeln: Die Fraktionsführung bestimmt, wer wann und wie lange zu einem Thema redet. Das ist der Grundsatz, das unter anderem sichert den Fraktionsführungen Macht.“
Ausnahmen von der Regel müsse es allerdings weiter geben.
Ausnahmen? Ausnahmen von der Regel des Rechts- und Verfassungsbruchs?
Wenn die Gründer unseres deutschen Rechtsstaates gewollt hätten, dass die Fraktionsführung bestimmt, wer wie lange redet und welche Meinung haben darf, hätten sie das in mein juristisches Lieblingsbuch, unser Grundgesetz, reingeschrieben. Haben sie aber nicht. Sondern das genaue Gegenteil. Ebenso eindeutig wie unmissverständlich heißt es in Artikel 38, Absatz 1:
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Und da die Verfasser des Grundgesetzes offensichtlich geahnt haben, dass es mit Meinungs- und Redefreiheit auch nach 1949 in deutschen Parlamenten nicht ganz einfach sein wird, legen sie in Artikel 48 noch einmal nach:
Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden.
Noch deutlicher kann man eigentlich nicht sagen, dass jede Form von Zwang, Druck, Einschränkung oder Beschneidung der Redefreiheit von Abgeordneten im Deutschen Bundestag verfassungswidrig ist.
Der Verfassungsbruch ist seit Jahrzehnten aber die Regel, nicht die Ausnahme.
Nach der Euro-Rettungsschirm-Debatte, bei der es Parlamentspräsident Norbert Lammert „gewagt“ hatte, sich verfassungskonform zu verhalten und auch Kritikern das Wort zu erteilen, protestierten die Fraktionschefs aller im Bundestag vertretenen Parteien. Vom Ältestenrat wurde Lammert sogar gerügt. Der als „Maulkorb-Debatte“ bekannt gewordene Plan, den Verfassungsbruch auch noch in die Geschäftsordnung des Bundestages einzuschreiben, ist zwar vorerst vom Tisch. Die Grundhaltung lebt.
Union-Fraktionschef Volker Kauder brachte diese Haltung, die von der Linkspartei bis zur CSU alle teilen, nach der Euro-Debatte auf den Punkt:
„Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, dann bricht das System zusammen.“
Welches System? Dasjenige, welches das Grundgesetz ausdrücklich verbietet, weil Abgeordnete Vertreter des Volkes und nicht der jeweiligen Fraktionsdisziplin sein sollen, ja müssen?
In Diktaturen und defekten Demokratien kann es lebensgefährlich sein, anderer Meinung zu sein. In unserer Demokratie ist es zumindest job- und karrieregefährdend.
Der Unterschied ist klar, aber auch die erschreckende Gemeinsamkeit. Wer nicht spurt und im Gleichschritt denkt, fliegt raus.
Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch beschreibt schon 1999 in einem Gastbeitrag für den „Freitag“ sehr anschaulich, wie der Fraktionszwang in der Praxis organisiert wird:
„Viele Abgeordnete strömen erst in der letzten Minute vor der Abstimmung ins Plenum und orientieren sich daran, wann der jeweilige ,Stimmführer‘ seiner Fraktion die Hand hebt oder welche Farbe die Stimmkarte hat, die der Geschäftsführer seiner Fraktion an der Urne hochhält. Manche kommen nur, weil die ,Stallwache‘ der Fraktion im Plenum über die Rufanlage der Fraktion durchgeben ließ, dass die Mehrheitsverhältnisse im Plenum gefährdet seien und die Kollegen bitte ins Plenum kommen mögen oder weil das Versäumen einer namentlichen Abstimmung mit einem finanziellen Abzug belegt wird.“
Und auch wir Journalisten mischen, zumindest in der Tagesberichterstattung kräftig mit. Abgeordnete, die sich dem verfassungswidrigen Fraktionszwang widersetzen, werden fast immer als „Abweichler“ und „Dissidenten“ bezeichnet. Selten als Kritiker. Als „mutige Abgeordnete“ oder „Verteidiger der Meinungsfreiheit“, beides sind sie meiner Ansicht nach, werden sie nie bezeichnet. Wie sehr die Wortwahl Wahrheit generieren kann, wissen wir nicht erst seit George Orwell. Was der Begriff „Abweichler“ in unserer Wahrnehmung anstellen kann, hat FAZ-Redakteurin Christiane Hoffmann sehr gut herausgearbeitet.
„Das Suffix „Ler“, an den Verbstamm angehängt, hat eine negative, abwertende Bedeutung. Neutral wäre: Abweicher. Ein Abweichler ist ein Störenfried, ein Querulant, ein Ärgernis.“
Wie sehr sich diese Auffassung, dass andersdenkende Abgeordnete Störenfriede sind, auch in die Synapsen von Journalisten geschlichen hat, zeigt stellvertretend für viele taz-Parlamentsredakteur Stefan Reinecke. In seinem Kommentar zur Maulkorb-Debatte spricht er sogar von „dissidenten Auffassungen“ und kommt zu der steilen These:
„Wer gelegentlich Bundestagsdebatten verfolgt, weiß, dass sie eher zu lang als zu kurz sind. Wäre es da klug, dissidente Auffassungen in den Fraktionen generell mit Rederecht zu belohnen? Das wäre es nicht.“
Ich wiederhole die entscheidende Frage noch mal, da ich sie auch beim dritten Lesen nicht glauben wollte. „Wäre es klug, dissidente Auffassungen mit Rederecht belohnen?“
Wie weit sind wir eigentlich noch einer defekten Demokratie entfernt, wenn solche Aussagen unwidersprochen bleiben?
Ich widerspreche.
Vehement und hoffentlich nicht allein. Und der ganze Konsens-Blabla, dass DIE Bürger nur einheitliche Parteimeinungen akzeptieren, widerlegen die Piraten gerade eindrucksvoll. Sie streiten sich öffentlich wie die Kesselflicker zum Teil absolut zu Recht, widersprechen sich andauern und stolpern dennoch von einem Umfragehoch zum Nächsten.
Es gibt einen Grund, warum in unserem Grundgesetz nichts von Fraktionszwang steht, ja nicht mal von Fraktionen.
Wir brauchen mehr mutige Abgeordnete, die allem Druck zum Trotz ihre Meinung und damit unsere Verfassung gegen die Maulkorbdemokraten verteidigen. Wir brauchen mehr Journalisten, die sich die Aushöhlung nicht gefallen lassen.
Und wir brauchen ein Parlament, dass endlich wieder den Auftrag erfüllt, den es in unserer Verfassung hat, nämlich ein Haus der Rede und der Gegenrede zu sein, ein Haus der Debatte, in dem die Abgeordneten um Meinungen ringen, statt wie Wackeldackel Meinungen abzunicken.
Wir brauchen ein Parlament, in dem das Grundrecht auf Streit wieder geachtet wird.
Wir brauchen eine neue Streitkultur!
Der Text ist ein Crosspost von carta.info.