Wie du mir, so ich dir
Eine Welt, in der Nichtbehinderung die Norm vorgibt, ist kein Picknick. Dabei wäre es so einfach.
Von Berlinern sagt man, sie trügen ihr Herz auf der Zunge. Ich persönlich bevorzuge eher keinen allzu lauten Ton, und streitsüchtig, wie man den Berlinern ebenfalls nachsagt, bin ich auch nicht. Ist ja klar, Menschen mit Behinderung sind halt immer nett.
Ich gebe zu, dieser Einstieg ist streitbar. Natürlich finden sich in ihm dümmliche bis offen diskriminierende Klischees. Und leider enthalten sie inmitten der faustdicken Lüge einen klitzekleinen Funken Wahres, sonst wären sie keine Klischees. Tatsächlich wird bei Menschen mit Behinderung öfter von einer gewissen Zutraulichkeit ausgegangen. Bloggerinnen wie Mia Mingus nennen dies „Erzwungene Intimität“: Von Leuten mit einer Behinderung wird erwartet, dass sie Persönliches mit anderen teilen und sich mehr öffnen als andere; wir sollen verwundbar sein. Und gerne erzählt man uns auch sehr persönliche Geschichten, weil wir ein Schicksal teilen.
Klar, mir wird mehr geholfen, wenn ich sympathisch rüberkomme. Wir wissen das. Das macht den Widerspruch aus, in dem wir leben: Wir müssen in einer Welt zurechtkommen, die wir eigentlich ändern wollen. Mia Mingus nennt es eine „Käfig-Wirklichkeit“.
Und so muss ich mich zuweilen fragen, wie ich auf den zuweilen komischen Umgang mit mir reagieren soll. Mich aufregen, einen Streit vom Zaun brechen, ignorieren oder nett lächeln? Manchen Menschen kommt es kompliziert vor, sich mit Menschen mit Behinderung zu unterhalten. Eine Studie hat laut der britischen BBC zusammengetragen, dass zwei Drittel der Befragten ein Unbehagen verspürten, wenn es zu einem Gespräch mit behinderten Menschen kommt. Da spielt vielleicht die Angst mit, etwas Falsches zu sagen oder zu bevormunden.
Richtig dagegen ist mitnichten, dass Menschen mit Behinderung jede Annäherung und jeden Zugang akzeptieren. Wenn mein Rollstuhl geschoben wird, ohne dass ich vorher gefragt wurde: nicht gut. Und wenn meine Behinderung beim Smalltalk mit Fremden sofort erstes Gesprächsthema wird: eher penetrant. Schließlich geht es um Persönliches, bei dem gern ich entscheide, wann und mit wem ich dies teile. Um Zwist zu vermeiden, plädiere ich für einen einfachen Gedankenschritt: Behandle mich, wie du selbst behandelt werden möchtest. Manche Frage erübrigt sich dann. Frauen an der Bushaltestelle werden zum Beispiel auch nicht geradeheraus um Auskunft darüber gebeten, wann ihre letzte Menstruation war.
Mikroaggressionen in der Luft nehme ich besser wahr als den Feinstaub
Wobei fragen an sich nicht schlecht ist. Wenn es darum geht, eine Zustimmung einzuholen, etwa ob ich Hilfe benötige, ist fragen gar notwendig. Und es ist auch manchmal in Ordnung, Neugierige und es-gut-Meinende auf der Straße aufzuklären und den neuesten Sachstand der Behindertenbewegung mitzuteilen – aber alles hat seine Zeit. Kinder zum Beispiel kriegen sowas hin. Natürlich wollen sie wissen, warum ich kleiner als andere Erwachsene bin und im Rollstuhl sitze. Sie fragen frisch heraus und das ist tausendmal besser als jenes laute Schweigen zu hören, mit dem Eltern ihre Kinder davon abhalten wollen, mich zu fragen. Kinder merken zwar Unterschiede sofort. Aber sie suchen auch mehr nach Gemeinsamkeiten als die Erwachsenen.
Damit muss ich umgehen, schließlich bin ich trotz meines Status als Ur-Berliner keine Streitbeule. Wie oft spüre ich Mikroaggressionen in der Luft schweben, die ich weitaus besser wahrnehme als den Feinstaub! Da schwingen krude Botschaften mit, wenn es heißt: „Also ich könnte das nicht, für einen Menschen mit Behinderung bist du erstaunlich fröhlich, was man nicht in den Beinen hat, hat man halt im Kopf.“ Streite ich dann? Schlaue Leute raten dazu, nicht aggressiv zu werden, das bringe wenig. Vielmehr solle das Potenzial an Mitgefühl geweckt werden. Also versuch ich es an dieser Stelle mit einem positiv gewandten: „Ich mag mein Leben. Und Sie?“ Darauf könnte man sich doch verständigen.