Wie selbstbestimmt bist du?
Jede/r will für sich selbst entscheiden. Immerhin prägen Entscheidungen unser Leben. Doch das direkte Umfeld, Medien und die Werbung darin nehmen enormen Einfluss auf uns. Sind wir deswegen gleich fremdbestimmt und falls ja, muss das ausschließlich schlecht sein?
Aktuell jobbe ich nebenbei in einem Schwerbehindertenwohnheim. Dort leben Menschen mit verschiedenen Diagnosen. Von Behinderungen wie leichter geistiger und körperlicher Einschränkung bis hin zu schweren Behinderungen unter höchstem Pflegegrad ist alles dabei. Zusammen wohnen sie in Gruppen, unterstützt von Betreuenden, die dort helfen, wo Bedarf besteht.
„Selbstbestimmung heißt, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, basierend auf einer Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen“, heißt es auf der Webseite des Organisationsbüros Messe integrata, einer österreichischen Pflege-Messe. Klingt einleuchtend. Manche der Bewohner:innen im Heim sind zwar durchaus fähig, selbst zu entscheiden, was sie essen möchten oder was sie an einem freien Tag, wenn sie nicht in die Behindertenwerkstätten fahren und arbeiten, unternehmen wollen. Einige waren auch in der Lage zu bestimmen, wen sie bei den Landtagswahlen im März wählen wollten. Andere wiederum haben über sich jedoch so gut wie keine Kontrolle und entbehren ihrer Selbstbestimmung. Aufgrund ihrer Behinderung können sie nicht abwägen, welche realistischen Konsequenzen eine Entscheidung für oder gegen etwas mit sich bringt. Sie verstehen die Tragweite eines solchen Vorgangs nicht. Als es um die Verabreichung der Corona-Impfung ging, haben darum nicht die Bewohner:innen selbst, sondern ihre gesetzlichen Betreuer:innen statt ihrer entschieden.
Aber sind wir anderen außerhalb einer solchen Einrichtung, die wir uns für selbstbestimmtere Wesen halten, denn wirklich frei? Sind nicht auch wir ziemlich fremdbestimmt in unseren Entscheidungen? Welche Rolle spielen etwa Influencer:innen oder Youtuber:innen? Nicht zu vergessen die Diskussionen mit den eigenen Freund:innen und der grundsätzliche Einfluss der Familie.
Nie nicht-fremdbestimmt
In der Psychologie wird in diesem Zusammenhang hauptsächlich von Einstellungen, Mustern und Prägungen im eigenen Verhalten gesprochen. Ebenso vom Durst nach sozialer Zugehörigkeit. Mit Blick auf die Pandemie ergibt sich eine neue Erkenntnis für mich, inzwischen beim Impfnachweis. Ohne ihn darf man im Gegensatz zu geimpften Personen vielleicht bald auch auf lange Sicht nur noch eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wenn ich nun – und sei es unterbewusst – zu den Geimpften gehören möchte, tue ich das nur meiner Gesundheit zuliebe oder um mitreden zu können, ein Statement zu setzen?
Ich wüsste gern, wie (viel) Einfluss von außen auf mich einwirkt. Stephan Moebius, Professor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte in Graz, stellt in einem Interview mit der Wochenzeitung Der Freitag die These auf: „Der freie Wille ist eine Ideologie“. Er bezieht sich dabei auf die Lehren des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der im 20. Jahrhundert für seine Forschung zum Habitus, also der allgemeinen Grundhaltung des Menschen, bekannt wurde. Mit der Behauptung, es gäbe keinen freien Willen, will Moebius uns nicht die Fähigkeit zur eigenen Entscheidung absprechen. Aber Einflüsse, so der Grazer Soziologe, gebe es schlichtweg immer, Entscheidungen seien nie nicht-fremdbestimmt.
Irgendwie fühle ich mich beim Lesen ertappt: Freier Wille – gerade deshalb lebt man in einer Demokratie, denke ich empört. Wer auf mich abfärben und mich prägen darf, das ist doch mir überlassen, insbesondere in den sozialen Medien. Wenn ich zum Beispiel auf Instagram unterwegs bin und nur den Accounts folge, von denen ich mich beeinflussen lassen möchte, ist gerade das meiner Ansicht nach eine selbstbestimmte Handlung. Welche Medien ich hauptsächlich konsumiere, mit welchen Menschen ich mich in der Regel umgebe und womit ich mich in meiner Freizeit beschäftige: Das ist und das sollte mir überlassen sein.
Der Fremdbestimmung einen Filter aufsetzen
Allein der Gedanke, fremdbestimmt zu sein, macht einem Angst. Er lässt einen in der Annahme, machtlos und ohne Kontrolle zu sein, quasi unfrei. Dabei übersehen wir, dass ein bewusstes Wahrnehmen der Fremdbestimmung in unserem Leben großes Potenzial mit sich bringt: Etwa die Gelegenheit, sich selbst zu reflektieren, grundlegende Einstellungen und die eigene Lebensart zu durchdenken. Bereits Erlebtes lässt sich nicht ungeschehen machen. Anders verhält es sich mit künftigen (selbstgewählten) Erfahrungen. Man kann versuchen, negative Wirkmuster und Quellen wenigstens zu filtern, wenn sie sich schon nicht gänzlich verhindern beziehungsweise austrocknen lassen. Das erfordert teilweise eine harte Auseinandersetzung mit sich selbst. Aber auch Bourdieu wusste: Es gibt Spielräume in der habituellen Disposition, also den Charakterzügen und Grundeinstellungen.
Und wie steht es um Moebius, hat er mit seiner Auffassung Recht? Sicher ist, wie viel Ideologie dem sogenannten freien Willen zugrunde liegt, lässt sich schwer ausmachen. Aber vielleicht ist nicht so sehr relevant, dass wir überhaupt bis zu einem bestimmten Grad alle fremdbestimmt sind, sondern wie wir darauf reagieren und damit umgehen.
huter Artikel
*guter
Ein wichtiger Artikel in diesen schwierigen Zeiten. Aktuell wie immer
Schöner Artikel, mir gefällt die vielseitige Betrachtung des Themas.
Gut geschrieben!!
Mit der Selbstbestimmung ist das immer so ne Sache. Wie im Artikel gut angedeutet wurde, ist man nie frei von irgendwelchen Einflüssen, ob bewusst oder unbewusst. Darüber sollte man sich im klaren sein, um ggf. möglichst objektiv entscheiden zu können.
Da hat die Autorin sehr schön die verschiedenen Betrachtungsweisen aufgeführt und dabei einen persönlichen Hintergrund mit eingebracht, da kann man nicht meckern
Euer Peter
Spannendes Thema. Gut verfasst und inhaltlich stark. Hat mich angeregt mich hiermit mehr zu beschäftigen. Danke!
Wie wollen Sie denn weiter vorgehen?
Guter geschriebener Artikel
*gut