Wir digitalen Bobos
Sie sind ein Freigeist, richtig? Jemand, der sich nichts vormachen lässt, linksintellektuell, überdurchschnittlich gebildet, aufgeklärt, willensstark, durchsetzungsfähig. Und Sie setzen sich ein. Sie argumentieren in Threads vehement gegen Immobilienhaie, sharen Blogs gegen Gentrifizierung, disliken steigende Mieten. Sie empören sich online über das Aus des Berliner „Klub der Republik“, der einer Yuppieschrottarchitektur weichen muss. Sie. Ja, […]
Sie sind ein Freigeist, richtig? Jemand, der sich nichts vormachen lässt, linksintellektuell, überdurchschnittlich gebildet, aufgeklärt, willensstark, durchsetzungsfähig. Und Sie setzen sich ein. Sie argumentieren in Threads vehement gegen Immobilienhaie, sharen Blogs gegen Gentrifizierung, disliken steigende Mieten. Sie empören sich online über das Aus des Berliner „Klub der Republik“, der einer Yuppieschrottarchitektur weichen muss.
Sie.
Ja, Sie sind das Problem.
Ich übrigens auch. Wir gehören gemeinsam zu denen, die alles besser wissen und das online auch allen mitteilen. Posten, sharen, liken. Was aber tun wir über diese digitale Empörungsgeste hinaus? Sie und ich? In der wirklichen Welt? Sich auf der Demo den Arsch abfrieren, statt auf Facebook zu protestieren? Die Townhouses und Luxussanierungen, die alles glatt und gleich und unbezahlbar machen, nicht nur scheiße finden, sondern einen Rohbau selbst besetzen? Im Zelt am Oranienburger Tor in Berlin für den Erhalt der C/O Galerie demonstrieren? Oder einem Opfer der Gentrifizierung die eigene Wohnung anbieten und dafür in die Berliner Stadtteile Lichtenberg oder Tempelhof ziehen? Die Liste ließe sich fortsetzen, für so manche deutsche Großstadt.
Nein. Wir digitalen Bobos haben Kants kategorischen Imperativ in sein Gegenteil verkehrt: „Empöre Dich stets so, dass die Maxime Deines postulierten Handelns zum allgemeinen Facebookprotest gereiche, so dass Dein „Gefällt mir“-Klick das eigentliche Handeln ersetzt.“
Der Thread ersetzt die Tat.
Ich like, also bin ich.
Digitale Bobos – deshalb, weil wir uns in unserer sich online millionenfach selbst bestätigenden Empörungsrhetorik genügen. Weil wir weder uns noch unsere Standpunkte, die wir online verbreiten, kritisch hinterfragen. Weil wir den Spiegel immer nur anderen vorhalten, aber niemals uns selbst.
Wir verlieren das Ziel aus den Augen.
Wir verlieren die Fähigkeit zur Selbstkritik.
Wir verlieren den Respekt vor dem Anderen.
Beispiele gefällig?
Wann haben Sie das letzte Mal die Gentrifizierung gedisliked? Und sich dabei direkt oder indirekt über die angebliche „Schwabenschwemme“ im Prenzlauer Berg, die „Horden von Dänen“ in Kreuzkölln oder die „Mitte–Yuppies“ im Allgemeinen beschwert?
Ja, steigende Mieten und die Verdrängung ärmerer Schichten aus ihren Kiezen sind ein massives Problem. Aber für fehlenden sozialen Wohnraum in Berlin können die Dänen nichts.
Ja, wie die Klub- und Kulturszene in Berlin behandelt wird, ist beschämend. Aber für die miserable Kulturpolitik im Land Berlin und in den Bezirken können Investoren und Eigentümer nichts. Egal. Im Internet lässt sich all das prächtig zu einer Cybersauce vermengen.
Gentrifizierung?
Dislike.
Neue Wohnungen?
Dislike.
Neue Bewohner?
Dislike.
Dislike.
Seit längerem beobachte ich, auch unter meinen eigenen Facebookfreunden, ein Phänomen. Menschen, die vor Jahren aus Köln oder Kabul, München oder Madrid nach Berlin gekommen sind, schimpfen jetzt wie die Rohrspatzen auf Menschen, die aus Kopenhagen oder Buxtehude hierher ziehen. Zugewanderte feinden Zuwanderer an.
Ob das vieldiskutierte Video der Kultkneipe FREIES NEUKÖLLN namens „Offending the clientele“ nun Ironie oder ernst gemeintes Fremden-Bashing ist: Es zeigt sehr präzise den Geist, um den es mir geht.
Unter dem Deckmantel des „Fight Gentrification“ etablieren wir auch auf digitalem Wege einen Quartiersrassismus. Alles Neue und alle neuen Bewohner werden per se als zerstörerisch und feindlich gebrandmarkt. Früher ging es gegen „die Türken“ oder „die Araber“, heute sind „die Dänen“ dran. Die Yuppies. Die Investoren. Hauptsache, die Anderen.
Digital verurteilt, viral vervielfacht, kritisch null hinterfragt.
Mir macht dieser neue Quartiersrassismus Angst, zumal er von Menschen gepflegt wird, die Rassismus aus voller Überzeugung eigentlich ablehnen. Das macht die Sache noch schlimmer.
Der digital korrekte Fremdenhass erinnert mich fatal an eine Szene meines Lieblings-Comics Asterix. In „Asterix und die Trabantenstadt“ wird das unbesiegbare gallische Völkchen plötzlich nicht mehr von Römern, sondern von neuen Siedlern bedroht, die ihre antiken Townhouses in direkter Nachbarschaft zum Dorf von Obelix und Co. errichten und auf Ablehnung und subtilen Fremdenhass stoßen. Der alte Greis Methusalix bringt es auf den Punkt: „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier.“
Dislike.
Dislike.
Die Unfähigkeit zur Selbstkritik, die uns digitalen Bobos auszeichnet, könnte ich an vielen Beispielen belegen. Ich greife nur eines heraus. Was halten Sie von Kinderarbeit? Und von unwürdigen und lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in China?
Ich finde beides furchtbar und fördere es doch, täglich. Ich liebe mein iPhone, dessen Herstellung genau das zur Folge hat: arbeitende Kinder und vergiftete Arbeiterinnen. Fehlt nur noch, dass ich via iPhone eine Onlinegruppe gründe, die gegen Kinderarbeit protestiert. Ich bin nicht besser als Sie, leider.
Sie und ich wissen, wie eine bessere Welt aussehen würde, wir können sie verbalisieren und visualisieren, im Großen wie im Kleinen. Aber dafür auf die Barrikaden gehen? Verzichten? Kämpfen?
Moment mal, werden Sie jetzt einwenden, da beschimpft uns ausgerechnet einer, der selbst für ein Debattenportal arbeitet und das Hohelied von Social Media singt? Wie bigott ist das denn bitte?
Ist es nicht. Ich bin nicht gegen digitalen Protest, ich halte ihn im Gegenteil für sehr effizient und wichtig, wenn er gezielt, kritisch und überlegt eingesetzt wird.
Zwei Beispiele:
Um auf das „schmutzige Abschiebegeschäft“ aufmerksam zu machen, blockierten Online-Aktivisten 2001 pünktlich zur Aktionärsversammlung von Lufthansa deren Website. Viele sagen, dies sei die erste deutsche Cyberdemo gewesen. Klasse Aktion.
Die Netz-Aktivisten gegen die Vorratsdatenspeicherung tragen ihren Online-Protest seit Jahren auf die Straße. Echte Demos mit echten Menschen und steigendem Erfolg.
Und wir? Wir digitalen Bobos? Wie wäre es denn zum Schluss mit etwas Konkretem?
Am 22. Februar sollen der Schokoladen, das Tisch-Theater und der Club der polnischen Versager in der Ackerstraße endgültig geschlossen werden, was eine kulturelle Katastrophe wäre. Im Netz rufen die Drei gemeinsam dazu auf, den Protest zu posten und zu sharen.
Das könnten Sie als guter digitaler Bobo natürlich tun. Aber Sie könnten auch streiken statt liken.
Bewegen Sie, verzeihung, Ihren Bobo-Popo doch bitte am 22. Februar höchst analog und persönlich in die Ackerstraße. Um 8 Uhr früh. Und besetzen Sie die Clubs, damit sie so voll werden, dass kein Gerichtsvollzieher mehr rein passt.
Das wäre ein Anfang.
Endlich jemand, der genauso denkt wie ich! Die einen spammen die Pinnwand mit Sachen wie „bei .. Likes mache ich…“ voll während die anderen über diese herziehen und stattdessen Sachen wie „Ach, wie doch die Leute daheim vorm PC schön gemütlich die armen Kinder in Afrika bedauern und dabei unsere grausame Gesellschaft verurteilen können! Wie war das nochmal mit dem ersten Stein?“ posten, 1000 Likes bekommen, aber selber nur daheim am Sofa sitzen und nichts tun. Das Kommentar „Und was machst du außer groß daherreden?“ wird natürlich gelöscht – Hauptsache wir alle sind Wutbürger, richtig?