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2/8: Späte Gerechtigkeit

Von Raphael Hünerfauth / 9. März 2018
Raphael Hünerfauth

Die Schweiz ist die absolute Nachzüglerin in Sachen gleiches Wahlrecht für alle. Frauen können erst seit 1991 überall im Land und auf allen politischen Ebenen abstimmen.

Vor ein paar Jahren habe ich der Mutter meiner Ex-Freundin als Gastgeschenk Käse aus der Schweiz mitgebracht. Beim Auspacken fragte sie ängstlich: „Hoffentlich ist es kein Appenzeller?“ Was mich wiederum verunsicherte. Mochte sie keinen Käse? „Doch, leider schon, aber der kommt mir nicht ins Haus! Den boykottiere ich, weil die das Frauenstimmrecht so spät eingeführt haben.“ Diesen Grund, Appenzeller nicht zu essen, hatte ich noch nie gehört. Und nie wieder vergessen.

Auf nationaler Ebene dürfen Schweizer Frauen tatsächlich erst seit dem 16. März 1971 wählen. Von den westeuropäischen Ländern war nur Lichtenstein noch später dran, nämlich 1984. Das absolute Schlusslicht auf regionaler Ebene jedoch ist der Kanton Appenzell Innerrhoden, ein ländlicher Halbkanton im Osten der Schweiz und mit rund 16.000 Einwohnern der bevölkerungsärmste.

Wind of Change in Appenzell?

Dort durften Frauen 1991 zum ersten Mal wählen. In jenem Jahr also, in dem die Sowjetunion aufgelöst und in Maastricht die Europäische Union gegründet wurde. Eine noch unbekannte Angela Merkel wurde Ministerin und in den Charts waren die Scorpions mit dem Song „Wind of Change“ ganz vorne mit dabei.

Im Vorjahr hatten die männlichen Stimmberechtigten des Halbkantons noch das Frauenstimmrecht abgelehnt. Erst der Entscheid des Schweizer Bundesgerichts hielt verbindlich fest, dass den Frauen politische Rechte auch auf kantonaler und kommunaler Ebene zustehen.

Die Wahlen auf kantonaler Ebene im Hauptort Appenzell finden jährlich statt. Unter freiem Himmel versammeln sich alle stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger, die Stimmabgabe geschieht per Handzeichen. Nur noch die beiden Kantone Appenzell Innerrhoden und Glarus kennen diese Art der Entscheidungsfindung. Jede und jeder sieht, wann die Hand hochgeht. Man kann sich denken, dass so der soziale Druck bei umstrittenen Themen möglicherweise zu einem anderen Wahlverhalten führt als bei einer geheimen Abstimmung.

Ein Innerrhödler berichtete, dass es während seiner Schulzeit in seiner Klasse eine Abstimmung zum Frauenstimmrecht gab. Nur drei Schüler waren dafür. Eine nicht kleine Anzahl von Frauen fühlte sich gut durch ihre Männer vertreten. Meine Großtante Elisabeth Frey erzählt: „Bei uns wurde am Küchentisch über Politik diskutiert. Meine Mutter hatte eine eigene klare politische Meinung, war jedoch auch überzeugt, dass es in Ordnung ist, wenn nur eine Person aus der Familie die Stimme abgeben darf.“

Ein Ziel, viele Anläufe

Meine Großtante war erstaunt, dass sie damals an der ETH in Zürich studieren konnte, aber nicht wählen durfte. Nachdem sie in die USA auswandert war, nahm sie dort ihr Stimmrecht wahr. Auf die Frage ihrer amerikanischen Freunde, wann die Schweiz das Frauenstimmrecht einführen werde, lautete ihre Antwort damals: „Wenn im Vereinigten Königreich das metrische System eingeführt wird.“ Mit diesem Scherz lag sie nicht weit daneben: Seit 1973 gilt das metrische System.

Vom ersten eingereichten Begehren einiger Zürcherinnen im Jahr 1868 hat es mehr als 100 Jahre gedauert, bis das Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene in der Schweiz zugelassen wurde. Verschiedene Anläufe schlugen immer wieder fehl. 1959 führte als erster Kanton Genf das Stimmrecht für Frauen ein. Im zweiten Anlauf auf nationaler Ebene akzeptieren die Männer 1971 das „Frauenstimm- und Wahlrecht in eidgenössischen Angelegenheiten“. Bei den im selben Jahr stattfindenden Parlamentswahlen entsandten Frauen und Männer gemeinsam zehn Nationalrätinnen in die 200 Sitze zählende große Kammer (Nationalrat) sowie eine Ständerätin in die kleine Kammer (Ständerat) mit 46 Sitzen. Im Verlauf der ersten Jahre nahm der Frauenanteil im Parlament erst rapide zu, um dann wieder abzuflachen.

Bei der vergangenen Wahl im Jahr 2015 betrug er im Nationalrat, dem Äquivalent zum Deutschen Bundestag, rund ein Drittel. Im Ständerat, der dem Bundesrat entspricht, sind die Frauen bis heute in deutlicher Unterzahl vertreten. Legendär sind die Worte der ersten Ständeratspräsidentin Josi Meier von 1991: „Erst heute begreife ich jene Männer, die mir am Anfang meiner Karriere sagten, die Frau gehöre ins Haus. Recht hatten sie: Die Frauen gehören ins Gemeindehaus, ins Ratshaus, ins Bundeshaus.“ Die erste Nationalratspräsidentin, welche den höchsten politischen Position im Land entspricht, Elisabeth Blunschy wurde im Jahr 1977, also schon sechs Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts, ins Amt gewählt.

Nicht nur Anerkennung für Lohnarbeit

Meine Mutter war bei der Einführung des Frauenwahlrechts 1971 noch nicht volljährig. Heute ist sie Bäuerin und vergleicht ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter mit einer Arbeitsstelle im Management. Sie glaubt, dass zeitgleich mit der Forderung nach dem Frauenstimmrecht auch die Hausarbeit abgewertet wurde. „Natürlich nehme ich mein Stimmrecht wahr, aber vor allem vermisse ich die Wertschätzung der Hausarbeit in der Gesellschaft“, sagt sie.

Meine Tante absolvierte im Jahr 1971 eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin. Eine Lehrerin machte ihr klar, dass die Frau einen eigenen Beruf erlernen muss, um finanziell unabhängig zu sein. Sie war aber befremdet, dass ihre Mutter, eine Bäuerin, nicht als berufstätig angesehen wurde.

Ich bin froh darüber, dass Frauen und Männer heute selbstverständlich die gleichen politischen Rechte haben – und auch darüber, dass ich damals einen Gruyère-Käse als Gastgeschenk dabei hatte.

Außerdem: Wer zwischen unseren Veröffentlichungen keine 24h warten mag, für diejenigen gibt es weitere lesenswerte Beiträge (und in diesen Tagen eigentlich auch kein Vorbeikommen am): Gender-Blog der FES.

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