3/8: „Kämpfen muss man immer’n bisschen“
Sissy musste früh lernen, sich auf unerwartete Entwicklungen einzulassen. Das macht die junge Frau zu einer selbstbewussten Persönlichkeit, die zwar theoretisch nichts von Feminismus wissen will, ihn aber täglich praktiziert.
Der Laden ist rappelvoll, Jung und Alt drängen sich an die Theke, jeder will sein Bier zuerst. Sissy ist in Hochform. „Zwei Halbe und ´n Gin Tonic“, brüllt sie ihren Kollegen zu. Dann kassiert die junge Frau vor ihr ab und reckt sich gleichzeitig dem nächsten Kunden zu: „Was bekommscht?“
Sissy ist 28 Jahre alt, lebt in ihrem Geburtsort Reutlingen in Baden-Württemberg und arbeitet am Wochenende in der Kaiserhalle. Die Kneipe ist bekannt für ihre schnelle Bedienung. Hier ist Sissy eine Meisterin. Sie hat einen scharfen Blick für fehlenden Nachschub, kaum ein Bierfleck bleibt von ihr unbemerkt. Wenn ihr ein Kollege eine Bestellung zuruft, hat sie längst das Glas in der Hand. Sissy ist Teamleiterin in der Rocker-Kneipe, eine Führungsrolle spricht sie sich selbst aber ungern zu. „Ich will keine Anweisungen geben, ich möchte nur gleichberechtigt miteinander schaffen.“
Manns genug für eine Frau
Seit zwei Jahren arbeitet sie in der Kaiserhalle. Schon als Fünfzehnjährige kommt sie zu Besuch, sie kennt Mitarbeiter und Stammkunden. Als eine der wenigen weiblichen Angestellten muss sie sich dennoch durchsetzen. Schnell arbeitet sie sich ein, macht einen guten Job. Manche Männer fühlen sich dabei auf den Fuß getreten. Sissy bedeutet Konkurrenz. Und das kriegt sie zu spüren. Dazu kommen Sprüche von Kunden, vielsagende Blicke, oft mal eine Hand an der Hüfte. Der Umgang wurde schwieriger, nachdem sie die neue Position hinter der Theke hatte. „Ich bin vorsichtiger geworden. Ich muss ja den Laden nach außen vertreten.“ Sonst könnte sie jeden Zweiten rauswerfen lassen. „Als Gast wäre ich da biestiger.“
Die Kneipe hat sie trotzdem im Griff. Ihre Kollegen respektieren sie, sie ist nicht zimperlich, sondern eine, die anpackt. Als burschikos würden einige das beschreiben. Sissy ärgert das. „Was ist denn typisch weiblich? Früher war ich das Prinzesschen. Aber irgendwann hat mir auch Heulen nichts mehr gebracht. Dann wirst du härter im Umgangston. Jeder ist die Summe seiner Erfahrungen. Ich versteh nicht, warum das nicht auch feminin sein sollte.“ Mit der Gender-Debatte könne sie dennoch nichts anfangen. Zu realitätsfern, findet sie das, was dort diskutiert wird.
Chaotisch wie immer
Ein paar Tage nach der Thekenschicht. Sissy ist gestresst. Sie kommt von ihrer Mutter in ihre frisch bezogene eigene Wohnung. Ein paar Lampen hängen bereits, das Sofa ist immerhin schon zur Hälfte aufgebaut. Sissy ist ungeschminkt, ihre langen, roten Locken hängen etwas zerzaust vom Kopf. Kaum hat sie sich gesetzt, überschlagen sich ihre Worte. Ihr Umzug sei ein einziges Chaos. Ihr Arbeitgeber komme nicht mit den richtigen Verträgen bei und das Arbeitsamt mache auch Probleme. Wie immer. Grundsätzlich ist Sissy das alles inzwischen gewohnt. Genervt ist sie trotzdem.
Eigentlich hat Sissy sich ihr Leben anders vorgestellt. Sie wollte Tourismus studieren, macht durch das angeforderte Praxisjahr Bekanntschaft mit dem Hotelbusiness und steuert schließlich eine Ausbildung in einer Hotelkette an. Hier findet sie Gefallen am Management, nimmt 2013 in Heidelberg ein Studium in Hotelbetriebswirtschaftslehre auf, macht gleichzeitig einen Ausbilderschein. Während dieser Zeit festigt sich ihr Wunsch, als Direktionsassistenz im Hotelgewerbe zu arbeiten.
Krank, nicht unfähig
Währenddessen hat Sissys Mutter mit krankheitsbedingten Arbeitsausfällen zu kämpfen, später wird sie erfahren, dass sie unter Diabetes leidet. Sissy will ihre Mutter unterstützen, zieht nach ihrem Studienabschluss zurück zu ihrer Mutter nach Reutlingen. Plötzlich wird auch Sissy krank: Sie fühlt sich ständig schlapp, bekommt keine Luft, hat starke Brustschmerzen. Die Ärzte diagnostizieren ihr Sarkoidose, eine Autoimmunerkrankung. Dabei greifen fehlgeleitete Immunzellen Strukturen im Körper an, die zu unterschiedlichen Symptomen führen. Eine chronische Krankheit, deren unberechenbare Ausbrüche die Betroffenen meist ein Leben lang quälen.
Ein Jahr lang liegt Sissy flach, geht in Kur, fühlt sich kraftlos. Dann soll sie wieder in die Berufswelt eingegliedert werden: Zunächst für wenige Arbeitsstunden. Durch ihre Krankheit ist Sissy nicht mehr zu hundert Prozent leistungsfähig, sie erhält einen Behinderungsgrad von 30. Damit kann sie auf Antrag mit gesetzlich Schwerbehinderten gleichgestellt werden. Doch kein Arbeitnehmer will sie in diesem Zustand übernehmen. Das Arbeitsamt ist überfordert, Sissy bleibt monatelang ohne Vermittlung. Irgendwann hat sie keinen Bock mehr. „Scheiß drauf“, sagt sie sich, „ich mach mir meine eigene Eingliederung.“ Sie ruft ihren Kumpel Lothar an, der sie in der Kaiserhalle als Minijobberin unterbringt. Einige Zeit später findet sie eine befristete Teilzeitstelle als Empfangsmitarbeiterin bei einer Firma für Feinmechanik, arbeitet von da an in zwei Jobs. Währenddessen unterstützt sie ihre Mutter und auch ihren acht Jahre älteren Bruder, der sein Leben nicht ganz auf die Reihe kriegt.
Jetzt steht Sissy vor ihrer dritten Vertragsverlängerung. „Ich fühle mich nicht gleichgestellt“, sagt sie mit einem Schulterzucken. „Aber ich richte mir es so ein, dass es so ist. Kämpfen muss man immer’n bisschen.“ Vielleicht sei das auch das Einzelkämpfersyndrom. Sie habe ja keine andere Wahl. „Ich mach mein Ding und ich werd’s hinkriegen. Und wenn ich mir dabei das Rückgrat brech. Ganz einfach.“