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Virtuelle Kerzen: Wie wir online trauern

Von Daniel Lehmann / 11. Dezember 2015
picture alliance / dpa Themendienst | Sebastian Willnow

Konsumieren, kommunizieren und verlieben: Es gibt keinen Bereich unseres Lebens, der nicht auch im Netz stattfindet. Auch der Umgang mit dem Tod erfährt einen Wandel.

Nach den Anschlägen von Paris am 13. November reagierten viele Internetnutzer in den sozialen Netzwerken mit einem neuen Profilbild. Besonders häufig war der Eiffelturm als Peace-Zeichen zu sehen, gezeichnet vom französischen Künstler Jean Jullien. Auf Facebook konnte man sich entscheiden, ob das bisherige Profilbild mit den Farben von Frankreichs Nationalflagge, der Tricolore, hinterlegt werden soll.

Sogleich entbrannte eine Debatte über die Sinnhaftigkeit dieser Änderungen. Die einen kritisierten die moralische Selbstinszenierung, den fragwürdigen Netzaktivismus und die Symbolik einer Landesfahne. Den anderen ging es um ein Zeichen der Solidarität und öffentlichen Beileidsbekundung. „Hier kommt ganz stark das Gemeinschaftsgefühl zum Tragen, das sich generell bei der Nutzung von sozialen Netzwerken bilden kann“, sagt Bernadette Kneidinger-Müller, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Internet an der Universität Bamberg.

Trauer
Soziale Netzwerken stärken das Gemeinschaftsgefühl, sagt Soziologin Bernadette Kneidinger-Müller (Foto: Uni Bamberg)

Durch das einfache Aktivieren dieses speziellen Profilbildes ergab sich die Möglichkeit, Teil einer großen Gemeinschaft zu werden, die sich kollektiv gegen die Einschüchterung durch solche Taten aufstellt“, erklärt die Soziologin das Tricolore-Phänomen. 

Dies kann einerseits die Verunsicherung reduzieren, wenn man Teil einer großen Gruppe ist, und andererseits auch Anregung für Diskussionen zu dem Thema mit anderen Personen sein, indem man mit dem Bild signalisiert, dass einen die Vorfälle persönlich beschäftigen“, so Kneidinger-Müller.

Zeitgemäße Kondolenz über das Internet

Der Angriff auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo im Januar dieses Jahres und der Absturz des Germanwings-Flugs 9525 über Südfrankreich führten ebenfalls zu massenhaft aktualisierten Nutzerkonten. Zum Ausdruck gebracht wurde die Anteilnahme via Social Media auch durch neue Hashtags wie #JeSuisCharlie oder #PrayForParis. Mit der Verwendung sozialer Netzwerke in dieser Tragweite ist das digitale Trauern endgültig im Bewusstsein angekommen.

Soziale Netzwerke können durchaus zur Trauerbewältigung beitragen, da sie Plattformen zur Kommunikation und zum zwischenmenschlichen Austausch sind. Kommunikation stellt bekanntlich immer einen wichtigen Bestandteil der Trauerbewältigung dar, ebenso wie das Kennenlernen von anderen Betroffenen oder Personen, die Ähnliches erlebt haben oder empfinden“, erklärt Kneidinger-Müller.

Das Internet entwickelt sich damit mehr und mehr zur zeitgemäßen Variante der Kondolenz und Schmerzbewältigung – öffentlich wie privat.

Netzwerk-Profile als Orte der Erinnerung

So kann man mittlerweile auf Facebook via Formular erklären, was nach dem eigenen Tod mit dem Profil passieren soll. Statt es löschen zu lassen, kann es in den sogenannten Gedenkzustand versetzt werden. Dadurch wird rein optisch ein „In Erinnerung an“ dem Namen vorangestellt.

Abhängig von den Konto-Einstellungen dürfen Facebook-Freunde oder auch andere Personen die Inhalte des Kontos teilen und damit den Verstorbenen in Erinnerung behalten. „Wir freuen uns jedes Jahr über die Beiträge von Tims [Name geändert; die Redaktion] Freunden, die an seinem Geburtstag Anekdoten aus seinem Leben auf Facebook teilen“, erzählen Tims Eltern. „Obwohl er nun schon seit vier Jahren nicht mehr bei uns ist, erfahren wir so immer noch Dinge aus seinem Leben, von denen wir nichts wussten.“

Bernadette Kneidinger-Müller stellt im Trost durch Kommentare offline wie online eine Parallele fest: „Die Trauerbewältigungstrategie im Offline-Rahmen halte ich nicht für grundsätzlich anders als im Online-Bereich. Auch da findet durch das Mitteilen von Beileid und Reden eine Anteilnahme statt.“

Ungezwungene Dialoge mit Gleichgesinnten

Außerhalb der großen sozialen Netzwerke hat sich eine ganze Reihe an Gedenkportalen etabliert. Dort können meist kostenlos Einträge vorgenommen werden, die unter anderem die Lebensgeschichte eines Menschen zeigen. Bei Bedarf ist es möglich, Bilder und Videos hochzuladen oder die Seite mit Musik zu hinterlegen.

Andere Nutzer können ihre Gedanken in einem Kondolenzbuch mitteilen, virtuelle Geschenke überreichen oder eine Kerze anzünden. Auf Gedenkseiten.de, nach eigenen Angaben eines der größten Gedenkportale in Deutschland, existieren bereits mehr als eine Million solcher digitalen Nachrufe.

Wer persönlichen Beistand braucht, ohne sich öffentlich äußern zu wollen, kann auf Trauerchats zurückgreifen. Auf der Seite Doch etwas bleibt können Jugendliche und junge Erwachsene mit ehrenamtlichen Chatbegleitern reden, die selbst einen Verlust erlebt haben.

Mit dem Angebot soll ein ungezwungener und behutsamer Dialog gewährleistet werden, der mit dem eigenen sozialen Umfeld so vielleicht nicht möglich wäre. „Chatten ist ein weit verbreitetes Kommunikationsmedium und deswegen ideal geeignet, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und ihnen in der schweren Phase der Trauer beizustehen“, so eine der Chatbegleiterinnen.

Wenn Trauernde auch nach mehr als einem halben Jahr nach dem Tod einer nahestehenden Person Schwierigkeiten haben, in den Alltag zurückzukehren und das eigene Leben als sinnlos empfinden, spricht man von einer pathologischen Trauer. In dem Fall ist eine Therapie zur Trauerbewältigung nötig. Auch diese ist inzwischen über das Internet möglich.

In einem Forschungsprojekt von der Universität Leipzig können Angehörige von Suizidopfern an einem speziellen Behandlungsprogramm teilnehmen. Nach einer umfangreichen Diagnostik schreiben die Patienten über fünf Wochen E-Mails zu bestimmten Aufgaben. Psychotherapeuten analysieren die Nachrichten und melden sich daraufhin ebenfalls schriftlich zurück.

Es gibt keinen Trauerplan“

Ob der digitale Trauerprozess den „echten“ Kontakt mit Menschen ersetzen kann, ist umstritten. „Ein Ersatz? Unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise wenn man räumlich keine Gelegenheit zur Trauer hat, weil man nicht vor Ort ist, und trotzdem einen Bezug zu den Opfern verspürt“, sagt Internetsoziologe Stephan Humer. „Eine Ergänzung? Auf jeden Fall. Je mehr Digitalisierung unser Leben prägt, desto mehr ist die Kommunikation dort Teil unseres Lebens – also auch unserer Trauer.“

Künftig werde der Gebrauch von Online-Strategien zur Trauerbewältigung weiter zunehmen, glaubt Bernadette Kneidinger-Müller. „Digitale Kondolenzbücher sind mittlerweile schon etwas wenig Ungewöhnliches geworden. Dementsprechend ist sicherlich zu erwarten, dass im Zusammenhang mit Trauer und Sterben verschiedene Praktiken und Kommunikationsformen neben der Face-to-Face-Kommunikation verstärkt online stattfinden werden.“

Für Stephan Humer ergibt sich daraus eine besondere Herausforderung. Klar erkennbar sei, dass von den Anfängen bis heute individuelle Wege dominierten. Es gebe keinen Trauerplan, keine gesellschaftlich etablierten Vorgaben – jeder verarbeite seine Trauer so, wie es ihm in der Situation sinnvoll erscheine. „Wenn man nichtdigital den etablierten und akzeptierten Weg geht – Bestatter, Beerdigung, Trauerfeier, Grabstelle – wie sieht dann ein adäquater digitaler Weg aus? Ist eine Webseite zu Ehren des Verstorbenen angemessen oder etwas anderes?“, fragt Humer.

Für die Zukunft muss und wird laut Humer digital zunehmend „trauerstrategisch“ gearbeitet werden müssen. Welche Konzepte sich durchsetzen könnten, sei aber noch offen.

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