Warum wir uns weniger wehren sollten
Debatten über den Islam in Deutschland drehen sich vor allem um Fundamentalismus und Terror. Die Antwort vieler Muslime darauf sind komplexartiges Wehren und Richtigstellung. Vor allem in den sozialen Medien ist der Druck hoch, sich zu positionieren.
Ein Gespräch mit der Sitznachbarin im ICE. Es fängt harmlos an: Wir unterhalten uns über Arbeit, Studium, Pendeln, Beziehungen, WGs, Berlin. Nachdem die Sitznachbarin sich warmgeredet hat, hält sie kurz inne und holt Luft. An ihrer veränderten Mimik merke ich, dass sie es jetzt wagen möchte, den kritischen Punkt anzusprechen: den Islam. Gleich wird sie sich entschuldigen und falls ich nichts dagegen habe, eine private Frage stellen. Als sie sich räuspert, beeile ich mich deshalb wie beiläufig zu erwähnen, dass ich sehr müde sei.
Ein bisschen fühle ich mich in diesen Momenten wie der Erzähler im Ehe-Roman „Sozusagen Paris“. Dieser ist konstant darauf bedacht, jedes Mal zügig das Thema zu wechseln, wenn er ahnt, dass ihn seine einstige Jugendliebe fragen möchte, wie er denn das mit dem Terror sehe. Vielleicht ist das ein wenig egoistisch. Aber manchmal habe ich einfach keine Lust, mich zu wehren.
Die muslimische Wehrhaftigkeit
Bei engagierten muslimischen Deutschen beobachte ich zunehmend ein Phänomen: Nennen wir es Wehrhaftigkeit. Es bezeichnet den Drang, sich mit allen Nachrichten um den Islam identifizieren, Stellung nehmen und im Namen der Wahrhaftigkeit wehren zu müssen.
Zu erklären ist das mit den Integrationsdebatten, die sich zu sehr auf Terror und Gewalt fokussieren. Die Bloggerin und Netzaktivistin Kübra Gümüşay schreibt, dass sie immer häufiger auf junge Muslime trifft, die ein Studium der Islamwissenschaften oder Theologie aufnehmen, um „endlich den Islam zu erklären“. Nach Alltag und friedlichem Zusammenleben klingt das nicht, wenn alle Muslime zu Islam-Experten werden müssen. Denn der Islam ist nicht das Einzige, was uns ausmacht.
Verzerrte Debatten- und Wahrnehmungskultur
Trotzdem wird ebenjene Komponente von uns so stark wahrgenommen, dass ich mich als bekennend muslimisch gekleidete Person in der Öffentlichkeit als politisiert empfinde. Also reduziert auf diesen Teil meiner Identität. Eine überproportional hohe Wahrnehmung übrigens, wie aktuelle Studien belegen. Bei einem etwa fünfprozentigen Anteil muslimischer Bevölkerung fühlt sich fast die Hälfte der Deutschen fremd im eigenen Land. Mehr als ein Drittel ist der Meinung, Deutschland werde vom Islam unterwandert. Der Islamophobie in der Mitte der Gesellschaft stehen laut Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung Muslime gegenüber, die sich zu einer großen Mehrheit als Deutsche fühlen und sich mit Staat, Gesellschaft und Demokratie eng verbunden sehen.
Tatsächlich gibt es Muslime, die fundamentalistische Gewalt mit religiösem Gedankengut legitimieren. Aber weniger als ein Prozent der deutschen Muslime vertritt radikale Strömungen wie den Salafismus. Viele und vor allem wertliberale Muslime tun sich selbst Unrecht: Denn wer ständig Debatten rund um den radikalen Islamismus aufgreift, um ihn zu widerlegen, bewegt sich innerhalb des gleichen Narrativs. Er läuft Gefahr, die Eigenwahrnehmung und damit wiederum die Fremdwahrnehmung allein auf einen Teil seiner in Wirklichkeit vielschichtigen, hybriden Identität zu beschränken.
Der Ausbruch aus dem „islamisierten“ Narrativ
Dabei sind es doch gerade die Entspiritualisierung des Glaubens, das Verkommen des Islam zu einer politischen Ideologie, sowie die Entindividualisierung von Religiosität, gegen die wir kämpfen. Das können wir aber nicht, indem wir ständig erklären, was wir nicht sind, oder indem wir uns permanent von etwas distanzieren, was wir nie waren.
So paradox und tragikomisch wie es auch klingen mag: Vielleicht müssen wir Muslime uns ein wenig entislamisieren. Das bedeutet nicht, weniger religiös zu sein, sondern vielmehr Religiosität nicht in einerm Narrativ geprägt von reduzierten und polemischen Debatten über Terror, Gewalt, sowie Speise- und Kleidervorschriften zu repräsentieren.
Weg von einem Komplex des Wehrens, hin zu einem umfassenden Verständnis unserer eigenen multidimensionalen Identität, hin zu unseren persönlichen Interessen und einer Mobilisierung der gesellschaftsbildenden Kraft von Glauben in Leben und Wirken: Sei es im Engagement bei Amnesty International, in Umweltschutzorganisationen, NGOs, gegen Rechtsextremismus, Sexarbeit von Minderjährigen.
Ein Plädoyer für mehr Normalität
Zwei Imperative seien mir zum Abschluss erlaubt. Der Erste geht an die unermüdlichen Wehrerinnen und Wehrer, Verfechterinnen und Verfechter eines offenen, friedlichen Glaubens: Erklärt weniger, lebt ihn!
Den zweiten Imperativ möchte ich mit einer persönlichen Erfahrung nach einem Vortrag einleiten, den ich vor einiger Zeit an der Universität hielt. Eine gute Freundin schrieb mir, dass ihre Mutter, die im Publikum gewesen war, sehr gerne verstehen würde, wieso ein so aufgeklärtes Mädchen sich bedecken würde. Daraufhin fragte ich meine Freundin, wieso sie mir selbst diese Frage noch nie gestellt hätte. Darüber habe sie gar nicht nachgedacht: „Wenn ich mit dir zusammen bin, sehe ich das gar nicht, ich sehe dich.“ An all diejenigen, die nur Umrisse sehen und darauf basierend Meinungen bilden: Seht uns!