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DebatteEinig Einwanderungsland, Deutschland?

Von Katharin Tai / 1. Januar 2016
picture alliance / SULUPRESS.DE | Vladimir Menck/SULUPRESS.DE

Einwanderung nach Deutschland gibt es seit jeher, doch diskutiert wird sie immer noch. Manche Debatten bewegen sich vorwärts, andere bleiben. Die Gesellschaft verändert sich in jedem Fall – auch, wenn manche das nicht wollen.

Die Suche nach dem Einwanderungsland Deutschland beginnt bei der Bürokratie. Zum Beispiel mit der Frage, wer eigentlich einen „Migrationshintergrund“ hat. Laut Statistischem Bundesamt war das 2014 gut ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands.

In der Definition steckt ein Stück Geschichte: Migrationshintergrund hat, wer nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 nach Deutschland gezogen ist, oder wer in Deutschland geboren wurde, aber einen ausländischen Pass oder mindestens einen zugewanderten Elternteil hat. Andere Definitionen nennen 1955 als Zeitpunkt, nach dem jemand nach Deutschland gekommen sein muss, um als Migrant zu gelten. 1955 ist das Jahr, in dem die Bundesrepublik ein Anwerbeabkommen für „Gastarbeiter“ mit Italien abschloss.

Zuwanderung reicht weit zurück

Auch schon lange vor 1949 wanderten Menschen nach Deutschland ein, zum Beispiel ins Ruhrgebiet. Viele von ihnen waren „preußische Polen“, die ungefähr ab 1870 einwanderten, um im Bergbau zu arbeiten. Auch aus anderen Ländern wie Italien, Frankreich oder England kamen Arbeitssuchende.

Migration aus und nach Deutschland gibt es also nicht erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts – entgegen der offiziellen Definition und einer weit verbreiteten Wahrnehmung. Die Berliner Professorin für Integrationsforschung Naika Foroutan wies 2011 in einem Interview auf diese Fehlwahrnehmung hin. Wer direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, sagte Foroutan, habe den Eindruck, dass der Wandel hin zu einer vielfältigen Gesellschaft etwas Neues sei. Dabei sei Deutschland nur für eine sehr kurze, traumatische Zeit ethnisch homogen gewesen, nämlich während der NS-Zeit.

Kurz nach dem Krieg schloss die junge Bundesrepublik Anwerbeabkommen mit Ländern in ganz Europa: das erste 1955 mit Italien, danach weitere mit der Türkei, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien. 14 Millionen Migranten kamen in der Folgezeit in die Bundesrepublik, doch nur etwa elf Millionen zogen wieder zurück in ihre Heimatländer.

Mittlerweile werfen viele Integrationsforscher den damaligen Politikern vor, zu kurz gedacht zu haben, denn niemand sah die Abkommen als eine gesellschaftliche Herausforderung. Man brauchte Arbeiter, andere Länder hatten sie, nach einer bestimmten Zeit sollten sie eben wieder nach Hause gehen. Aber, wie der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schrieb: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.”

Die Bundesrepublik merkte das 1973, als sie in der Wirtschaftskrise einen Anwerbestopp verhängte und in Deutschland lebenden „Gastarbeitern“ Anreize gab, damit diese das Land wieder verließen. Die Realität sah anders aus: Familien waren nachgezogen und Kinder geboren worden, die in Deutschland aufwuchsen.

Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“

Die Regierung der DDR versuchte, eine solche Entwicklung zu vermeiden. Auch in der DDR brauchte man Arbeitskräfte, nicht zuletzt wegen der vielen Menschen, die vor dem Mauerbau in den Westen gezogen waren. Das Rotationsprinzip, von dem die Bundesrepublik geträumt hatte, wurde mit harten Bandagen durchgesetzt: Angeworben wurden in erster Linie junge Männer ohne Familien. Wenn weibliche Arbeitskräfte schwanger wurden, mussten sie abtreiben oder wurden ausgewiesen. Trotzdem lebten zur Zeit der Wende 1989 laut Statistiken der Bundeszentrale für politische Bildung noch etwa 59.000 Vietnamesen und 15.000 Mosambikaner in der DDR, die alle dort beschäftigt waren.

Währenddessen weigerten sich die Verantwortlichen in der Bundesrepublik weiterhin, anzuerkennen, dass längst eine vielfältige Gesellschaft existierte: Noch 1983 behaupteten die Union und die FDP in ihrem Koalitionsvertrag, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Entsprechend sah auch die damalige Integrationspolitik aus, die eher zum Ziel hatte, angeworbene „Gastarbeiter“ wieder loszuwerden, als ihren Kindern eine gute Bildung und einen schnellen Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.

Bis 2000 zogen sich diverse Bundesregierungen so immer aus der Verantwortung, während Wohlfahrtsverbände und lokale Vereine begannen, sich um Integrationsarbeit zu bemühen.

Erinnerung an das Auswanderungsland Deutschland

Eine Gruppe wird bei den Diskussionen über Migration und Integration in Deutschland oft vergessen: die Spätaussiedler. Der Soziologe Rainer Geißler beschreibt sie als „geschichtsträchtige Migranten– eine Erinnerung an Zeiten wie das 12. und 18. Jahrhundert, als Deutschland (beziehungsweise die Gebiete innerhalb der heutigen deutschen Grenzen) ein Auswanderungsland war. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung machten Spätaussiedler 2011 die Hälfte der Deutschen mit Migrationshintergrund aus. Im Gegensatz zu den „Arbeitsmigranten“ erhielten sie bei ihrer Einreise die deutsche Staatsbürgerschaft.

Diese Regelung beruht auf einem Verständnis der deutschen Staatsangehörigkeit, die „jus sanguinis“, Blutsrecht, heißt. Demnach kann die deutsche Staatsbürgerschaft über Generationen und Jahrhunderte hinweg vererbt werden. Ab Ende der 1990er Jahre fand ein Umdenken statt, das 2000 zu einer wichtigen Gesetzesänderung führte: Zu dem Blutsrecht, das noch aus dem Kaiserreich stammte, kam das „jus soli“, nach dem man die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt in Deutschland erhalten kann.

Im gleichen Jahr kam es zur Debatte um die sogenannte Leitkultur, angestoßen durch den damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz. Er stellte die Frage, was Deutschland und die deutsche Kultur ausmache – ein Gegenkonzept zur multikulturellen Gesellschaft, die eigentlich längst Realität war.

Laut Gesellschaftswissenschaftlerin Naika Foroutan zwang die Debatte viele Deutsche, die Vielfalt der Gesellschaft, in der sie lebten, anzuerkennen. Sie kamen nicht umhin, die vielen gesellschaftlichen und kulturellen Facetten des Landes zumindest zu bemerken – ob sie sich darüber freuten, ist eine andere Frage.

Schritte nach vorne und zurück

Seitdem hat sich einiges getan: Zum 3. Oktober 2010 verkündete der damalige Bundespräsident Christian Wulff: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Es gibt Integrationsbeauftragte und Integrationsberichte. Es wird darüber gesprochen, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Schnitt einen schlechteren Schulabschluss haben, und gefragt, wie das geändert werden kann.

Aber die Debatte bewegt sich nicht nur vorwärts: Für viele vermittelt der Begriff Integration den einseitigen Anspruch, dass sich „die Anderen“ anpassen sollten. Berichte wie die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung weisen darauf hin, dass viele Deutsche Neues und Anderes eigentlich gar nicht annehmen wollen – große Teile der Bevölkerung haben stark negative Vorurteile gegenüber Muslimen, asylsuchenden Menschen sowie Sinti und Roma. Auch „Deutschland ist kein Einwanderungsland“, der Slogan aus den 1980er Jahren, taucht plötzlich wieder auf – oft im Zusammenhang mit Pegida

Die Suche nach dem Einwanderungsland Deutschland beginnt bei der Bürokratie. Zum Beispiel mit der Frage, wer eigentlich einen „Migrationshintergrund“ hat. Laut Statistischem Bundesamt war das 2014 gut ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands.

In der Definition steckt ein Stück Geschichte: Migrationshintergrund hat, wer nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 nach Deutschland gezogen ist, oder wer in Deutschland geboren wurde, aber einen ausländischen Pass oder mindestens einen zugewanderten Elternteil hat. Andere Definitionen nennen 1955 als Zeitpunkt, nach dem jemand nach Deutschland gekommen sein muss, um als Migrant zu gelten. 1955 ist das Jahr, in dem die Bundesrepublik ein Anwerbeabkommen für „Gastarbeiter“ mit Italien abschloss.

Zuwanderung reicht weit zurück

Auch schon lange vor 1949 wanderten Menschen nach Deutschland ein, zum Beispiel ins Ruhrgebiet. Viele von ihnen waren „preußische Polen“, die ungefähr ab 1870 einwanderten, um im Bergbau zu arbeiten. Auch aus anderen Ländern wie Italien, Frankreich oder England kamen Arbeitssuchende.

Migration aus und nach Deutschland gibt es also nicht erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts – entgegen der offiziellen Definition und einer weit verbreiteten Wahrnehmung. Die Berliner Professorin für Integrationsforschung Naika Foroutan wies 2011 in einem Interview auf diese Fehlwahrnehmung hin. Wer direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, sagte Foroutan, habe den Eindruck, dass der Wandel hin zu einer vielfältigen Gesellschaft etwas Neues sei. Dabei sei Deutschland nur für eine sehr kurze, traumatische Zeit ethnisch homogen gewesen, nämlich während der NS-Zeit.

Kurz nach dem Krieg schloss die junge Bundesrepublik Anwerbeabkommen mit Ländern in ganz Europa: das erste 1955 mit Italien, danach weitere mit der Türkei, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien. 14 Millionen Migranten kamen in der Folgezeit in die Bundesrepublik, doch nur etwa elf Millionen zogen wieder zurück in ihre Heimatländer.

Mittlerweile werfen viele Integrationsforscher den damaligen Politikern vor, zu kurz gedacht zu haben, denn niemand sah die Abkommen als eine gesellschaftliche Herausforderung. Man brauchte Arbeiter, andere Länder hatten sie, nach einer bestimmten Zeit sollten sie eben wieder nach Hause gehen. Aber, wie der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schrieb: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.”

Die Bundesrepublik merkte das 1973, als sie in der Wirtschaftskrise einen Anwerbestopp verhängte und in Deutschland lebenden „Gastarbeitern“ Anreize gab, damit diese das Land wieder verließen. Die Realität sah anders aus: Familien waren nachgezogen und Kinder geboren worden, die in Deutschland aufwuchsen.

Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“

Die Regierung der DDR versuchte, eine solche Entwicklung zu vermeiden. Auch in der DDR brauchte man Arbeitskräfte, nicht zuletzt wegen der vielen Menschen, die vor dem Mauerbau in den Westen gezogen waren. Das Rotationsprinzip, von dem die Bundesrepublik geträumt hatte, wurde mit harten Bandagen durchgesetzt: Angeworben wurden in erster Linie junge Männer ohne Familien. Wenn weibliche Arbeitskräfte schwanger wurden, mussten sie abtreiben oder wurden ausgewiesen. Trotzdem lebten zur Zeit der Wende 1989 laut Statistiken der Bundeszentrale für politische Bildung noch etwa 59.000 Vietnamesen und 15.000 Mosambikaner in der DDR, die alle dort beschäftigt waren.

Währenddessen weigerten sich die Verantwortlichen in der Bundesrepublik weiterhin, anzuerkennen, dass längst eine vielfältige Gesellschaft existierte: Noch 1983 behaupteten die Union und die FDP in ihrem Koalitionsvertrag, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Entsprechend sah auch die damalige Integrationspolitik aus, die eher zum Ziel hatte, angeworbene „Gastarbeiter“ wieder loszuwerden, als ihren Kindern eine gute Bildung und einen schnellen Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.

Bis 2000 zogen sich diverse Bundesregierungen so immer aus der Verantwortung, während Wohlfahrtsverbände und lokale Vereine begannen, sich um Integrationsarbeit zu bemühen.

Erinnerung an das Auswanderungsland Deutschland

Eine Gruppe wird bei den Diskussionen über Migration und Integration in Deutschland oft vergessen: die Spätaussiedler. Der Soziologe Rainer Geißler beschreibt sie als „geschichtsträchtige Migranten– eine Erinnerung an Zeiten wie das 12. und 18. Jahrhundert, als Deutschland (beziehungsweise die Gebiete innerhalb der heutigen deutschen Grenzen) ein Auswanderungsland war. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung machten Spätaussiedler 2011 die Hälfte der Deutschen mit Migrationshintergrund aus. Im Gegensatz zu den „Arbeitsmigranten“ erhielten sie bei ihrer Einreise die deutsche Staatsbürgerschaft.

Diese Regelung beruht auf einem Verständnis der deutschen Staatsangehörigkeit, die „jus sanguinis“, Blutsrecht, heißt. Demnach kann die deutsche Staatsbürgerschaft über Generationen und Jahrhunderte hinweg vererbt werden. Ab Ende der 1990er Jahre fand ein Umdenken statt, das 2000 zu einer wichtigen Gesetzesänderung führte: Zu dem Blutsrecht, das noch aus dem Kaiserreich stammte, kam das „jus soli“, nach dem man die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt in Deutschland erhalten kann.

Im gleichen Jahr kam es zur Debatte um die sogenannte Leitkultur, angestoßen durch den damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz. Er stellte die Frage, was Deutschland und die deutsche Kultur ausmache – ein Gegenkonzept zur multikulturellen Gesellschaft, die eigentlich längst Realität war.

Laut Gesellschaftswissenschaftlerin Naika Foroutan zwang die Debatte viele Deutsche, die Vielfalt der Gesellschaft, in der sie lebten, anzuerkennen. Sie kamen nicht umhin, die vielen gesellschaftlichen und kulturellen Facetten des Landes zumindest zu bemerken – ob sie sich darüber freuten, ist eine andere Frage.

Schritte nach vorne und zurück

Seitdem hat sich einiges getan: Zum 3. Oktober 2010 verkündete der damalige Bundespräsident Christian Wulff: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Es gibt Integrationsbeauftragte und Integrationsberichte. Es wird darüber gesprochen, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Schnitt einen schlechteren Schulabschluss haben, und gefragt, wie das geändert werden kann.

Aber die Debatte bewegt sich nicht nur vorwärts: Für viele vermittelt der Begriff Integration den einseitigen Anspruch, dass sich „die Anderen“ anpassen sollten. Berichte wie die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung weisen darauf hin, dass viele Deutsche Neues und Anderes eigentlich gar nicht annehmen wollen – große Teile der Bevölkerung haben stark negative Vorurteile gegenüber Muslimen, asylsuchenden Menschen sowie Sinti und Roma. Auch „Deutschland ist kein Einwanderungsland“, der Slogan aus den 1980er Jahren, taucht plötzlich wieder auf – oft im Zusammenhang mit Pegida.

 

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Pro | Wir müssen uns alle integrieren

Contra | Ich, die Deutsche



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