WG mit Kind
Mira Lauterbach hat ihr ganzes Leben in WGs verbracht. Auch ihre eigenen Kinder will sie in einer Wohngemeinschaft großziehen – nicht nur aus finanziellen Gründen.
Es ist einer der ersten Frühlingstage in diesem Jahr, als Mira Lauterbach auf dem Balkon ihrer Leipziger Altbauwohnung sitzt und sich gemütlich eine Zigarette dreht. Die großzügige Wohnstätte teilt sich die 26-jährige Studentin mit ihren fünf WG-Mitbewohnern Caro, Niko, Lili, Frieda und Patrick. Nichts Besonderes, eigentlich. Knapp fünf Millionen Deutsche über 14 Jahren leben in einer Wohngemeinschaft. Vor allem Studierende teilen sich Wohnungen, um dadurch Geld zu sparen.
Doch Mira kennt nichts Anderes. Sie lebt schon seit ihrer Geburt in WGs und hat vor, das auch noch ihr ganzes Leben lang zu tun. Für sie ist die WG-Zeit keine vorübergehende Lebensphase, die eingerahmt wird vom Familienleben. „Es ist ein Lebensmodell für alle Lebensphasen“, sagt sie selbstbewusst.
Blick zurück: Beschauliches Heidelberg in den frühen 1990ern. Als Miras Eltern studieren, wohnen sie gemeinsam mit Freunden in einer großen WG in der Heidelberger Vorstadt. Dann kommt Mira zur Welt. Doch anstatt auszuziehen, bleibt die junge Familie einfach wohnen. So verbringt Mira ihre ersten Lebensjahre in der Studenten-WG ihrer Eltern.
„Natürlich haben meine Eltern da auch viel gefeiert“, sagt sie. Kinder auf Partys seien in Deutschland unnötig tabuisiert. „Das war für mich ein Abenteuer, wenn ich am Wochenende mal bis zehn Uhr aufbleiben durfte!“ Hier, findet Mira, glaubten viele Menschen, dass Kinder jeden Tag zwölf Stunden schlafen müssten und immerzu Ruhe brauchten. „Aber so ein Quatsch!“, empört sie sich. „Kinder sind doch neugierig!“
„Die anderen leben ja ganz anders!“
Ein paar Jahre später, als Miras Bruder zur Welt kommt, wird es zu klein in der alten Studenten-WG. Miras Eltern ziehen mit einem befreundeten Pärchen in ein größeres Haus bei Heidelberg. Mira und ihr Bruder bekommen eigene Zimmer und das befreundete Paar der Eltern einen Sohn. Als Familie alleine zu wohnen, stand nicht zur Debatte.
„Ungewöhnlich habe ich das alles eigentlich nie gefunden“, sagt Mira. Bis sie schließlich in die Grundschule kommt und merkt: Die anderen leben ja alle ganz anders. „Klar, habe ich mir als Kind gewünscht, möglichst normal zu sein,“ gesteht sie und blinzelt der Sonne entgegen. „Aber wirklich belastet hat mich meine ungewöhnliche Wohnsituation nie.“
Im Gegenteil. Zuhause, so Mira heute, hätte sie von vielfältigeren Gesprächen profitiert. „Denn wenn vier erwachsene Freunde beim Abendbrot zusammensitzen, gibt es mehr zu bereden als die klassischen Wie-war-es-heute-in-der-Schule-Themen.“
Außerdem sei das Haus niemals leer gewesen, erinnert sie sich. Irgendwer war immer zur Stelle. Alle Erwachsenen hatten einen Job, es gab genug Geld, sodass niemand Vollzeit arbeiten musste. Allen genügte eine Teilzeitstelle. Auch die Hausarbeit war für den Einzelnen weniger, weil man sie durch vier teilen konnte. „Am Ende hat man in einer WG einfach mehr Freizeit“, sagt Mira lachend.
Zu viel Alleinsein tut nicht gut
Dass Mira noch immer diese Einstellung hat, ist nicht selbstverständlich. Heute gehört sie selbst zu den Erwachsenen. Als Mitbewohner Niko sich mit Töchterchen Lili bei ihrer WG vorgestellt hat, war diese dem Kind gegenüber aufgeschlossener als die gut ein Dutzend anderen WGs, in die das Duo einziehen wollte. Lili wird im August vier Jahre alt und wohnt einige Tage in der Woche in Miras WG und den Rest bei ihrer Mutter in einer anderen Wohnung.
Mira studiert Sonderpädagogik, hat lange in Kinderheimen gearbeitet und umgibt sich generell gerne mit Kindern. Lili ist für ihren Alltag eine Bereicherung. Die beiden haben einen vertrauten Umgang miteinander. Die anderen Mitbewohner stören sich daran, dass Lili manchmal ungefragt in ihre Zimmer stürmt. Mira sieht das gelassener.
Ihre eigenen Kinder will sie später zusammen mit ihrer besten Freundin und ehemaligen Mitbewohnerin großziehen. Mira als Gemeinschaftsmensch zu bezeichnen, einer, der gerne lacht und viel redet, liegt nahe. Wenn jemand etwas erzählt, hört sie aufmerksam zu, guckt stundenlang nicht auf ihr Handy, sobald sie unter Menschen ist. Alleine in einer eigenen Wohnung wäre sie deplatziert.
„Ich glaube, zu viel Alleinsein tut wirklich niemandem gut“, sagt sie. „WGs sind da eine pragmatische Antwort auf die Probleme der Gegenwart.“ Auch Mira beobachtet, wie immer weniger Menschen mit ihren Eltern oder gar Großeltern in einem Haus wohnen, weil viele die Heimat für Job oder Studium verlassen. „Mit Freunden zusammenzuziehen kann dieses alte Modell ersetzen.“ Denn alleine zu leben könne man sich in Zukunft sowieso immer seltener leisten, warnt sie. „Nicht bei den Mieten.“