Besuchsreport: BLM in Berlin
Eine Woche lang waren Aktivist_innen von Black Lives Matter USA Gast der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Eindruck einer weithin diskriminierungsfreien deutschen Gesellschaft hat sich währenddessen aber schnell abgebaut.
Wie diskriminierend ist die Gesellschaft, in der ich lebe? Für einen jungen, gesunden, weißen, männlichen Europäer wie mich ist diese Frage nicht ganz einfach zu beantworten. Es gibt zwar Studien, die entsprechende Zahlen bereithalten, aber konkrete Erfahrungen sind bei mir persönlich nicht vorhanden.
Ganz anders sieht es aus bei Anhänger_innen der Black Lives Matter-Bewegung (BLM). Eine sechsköpfige Delegation aus den USA war Anfang September in Berlin zu Besuch, um sich hier dem Thema Diskriminierung zu widmen. Zusammen mit Franziska Schröter, Referentin des Projektes „Gegen Rechts“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, thematisierte die Gruppe über mehrere Tage hinweg die vielen Formen des Alltagsrassismus, insbesondere mit Blick auf das Verhalten der Polizei. Die Delegation bestand aus vier Frauen und zwei Männern, allesamt Aktivist_innen aus unterschiedlichen Regionen (Baltimore, Baton Rouge, New York) und Berufsfeldern (Veranstaltungsorganisation, Film, Schriftstellerei, Pädagogik). Alle sechs sind im Rahmen der landesweiten Demonstrationen zwischen 2014 und 2016 in den USA politisch aktiv geworden, mit dem Ziel, Polizeigewalt, Racial Profiling und Diskriminierungen aufgrund von Rassenzuschreibungen zu beenden. Aus dieser Protestbewegung entstand wiederum BLM.
Lehrreiche Begegnungen in Zeiten von Chemnitz
Trotz aller Unterschiede, das wurde schnell klar, ist den Besucher_innen aus den USA die Erfahrung gemein, mit afro-amerikanischen Wurzeln in einer rassistisch geprägten Gesellschaft groß geworden zu sein. Und hier? Die Delegation hatte ein sehr ausgefülltes Programm, traf sich mit Berliner Aktivist_innen, Politiker_innen, Mitgliedern von Stiftungen oder Projektmitarbeiter_innen, die gegen Rassismus mobilisieren. Ein Bericht über unterschiedliche Arten von Diskriminierung und verschiedene Formen des Rechtsextremismus in Deutschland, besonders in “Chemnitz-Zeiten“, hat bei den amerikanischen Gästen für eine negative Überraschung gesorgt.
Äußerst positiv berührt wurde die Gruppe dagegen an einem Vormittag, als sie auf Schüler_innen des Lessing Gymnasiums und der Ernst-Reuter-Oberschule traf. Die Diskussionen über deutsche Varianten des Alltagsrassismus und über politischen Aktivismus in den USA stießen sofort auf das Interesse der Schüler_innen. Als zum Schluss noch ein paar Selfies gemacht wurden, hieß es, das sei die beste Schulstunde seit Langem gewesen.
Wie man rassistische Strukturen entlarvt
Doch nicht alle Teile des Besuchsprogramms liefen so friedlich ab. Ausgerechnet ein Besuch des Afrikanischen Viertels im Berliner Stadtteil Wedding eskalierte beinahe. Von einem Stadtführer begleitet, der die Kolonialgeschichte Deutschlands und deren aktuelle Relevanz für die heutige Politik erläuterte, erfuhr die Delegation von den Verbrechen deutscher Siedlungspolitik in den Überseegebieten, von rassistischen Ausstellungen Anfang des 20. Jahrhunderts und von der derzeitigen Debatte um die Umbenennung kolonial geprägter Berliner Straßennamen. Plötzlich schrie ein Passant mit Blick auf die Gruppe „Scheiß Afrikaner!“, kurz darauf wehte ihr in einem Schrebergarten eine verblichene Reichsfahne entgegen. Die Enttäuschung und Empörung der Delegation war entsprechend groß und von der anfänglichen Sakralisierung einer „diskriminierungsfreier europäischer“ Kultur gegenüber der „rassistischen amerikanischen“ Gesellschaft war nach einer Woche nicht mehr viel übrig.
Nichtdestotrotz blieb die Gruppe nach eigenen Angaben von den Eindrücken ihrer Reise und vor allem von den Begegnungen mit Berliner Aktivist_innen begeistert. Ähnliches gilt auch für mich. Als ein in Deutschland lebender Franzose hatte ich zunächst den Eindruck, dass dieses Land toleranter gegenüber Minderheiten auftritt als andere Länder. Als weißer männlicher Europäer musste ich nach und nach aber feststellen, dass meine persönlichen Eindrücke überhaupt nicht relevant für die Messung diskriminierender Aspekte einer Gesellschaft sind. Rassistische und diskriminierende Strukturen finden überall statt, manchmal muss man sie als Nichtbetroffener jedoch erst suchen und als das, was sie sind, entlarven. Oder wie mein Landsmann Pierre Bourdieu es einmal formulierte: „Bewusstes Kommunizieren zwischen Menschen setzt voraus, dass sie das Unbewusste miteinander gemein haben.“