Ich mein‘ es doch nur gut
Zum Jahresende brennt unserem Autor vor allem ein Thema unter den Nägeln: Wie wir mit Bevormundung umgehen.
Ein Gespenst geht um in Deutschland – es nennt sich Paternalismus. Wie man es verscheucht, weiß ich nicht. Gerade diese Rätselhaftigkeit macht es meiner Meinung nach zu einem dringlichen Problem, denn jede_r ist in der Versuchung dieses Gespenstergewand anzuziehen; ich natürlich auch.
Wie oft habe ich das erlebt: Dass andere es „gut“ meinen und Entscheidungen für einen treffen. Sie üben eine Vormundschaft aus, ohne dazu ernannt zu sein. Qualifiziert müssen sie auch nicht sein. Aber eine große Klappe haben sie. Menschen mit Behinderung machen diese paternalistische Erfahrung massenhaft. Man überhört sie allzu oft. Skandalöserweise wegen ihrer Behinderung an sich – als wäre diese ein Ausweis für Inkompetenz. Dabei könnte es jede_r besser wissen, denn dieses Verhalten macht vor niemandem halt: nicht bei übereifrigen Eltern gegenüber ihren Kindern, nicht beim autoritären Staat gegenüber seinen Bürger_innen und auch nicht bei anmaßenden Nachbarn gegenüber ihrer Nachbarschaft. Das macht es so kompliziert. OhnePaternalismus würde unsere Gesellschaft vielleicht auseinanderfallen. Es scheint fast, als bräuchten wir eine gewisse Portion Gift in unserem Zusammenleben. Nur: Finden wir die richtige Dosis?
Behinderung ist nicht gleich Inkompetenz
Nehmen wir das Reden über Inklusion. Seit Generationen wird um elementare Grundrechte gekämpft. Aus Sicht der Betroffenen macht das müde und verbittert, jedenfalls zuweilen. Es gibt ja auch genug zu kritisieren: Vieles wie z.B. das Wahlrecht klappt immer noch nicht. Es fehlt am entsprechenden Willen, und wenn nicht an dem, dann an nötiger Sensibilität, und wenn nicht an der, dann an Wissen.
Natürlich ist das nur eine Seite der Medaille. Es ist viel erreicht worden – ich bin froh, dass ich heute in Deutschland lebe und nicht ein paar Jahrzehnte früher. Was die Rechte von Menschen mit Behinderung angeht, gab es schon einen Quantensprung, immerhin wurden sie vor nicht allzu langer Zeit einfach umgebracht. Bei der nötigen Kritik laufen wir also alle Gefahr, das Positive aus den Augen zu verlieren, all das Erreichte. Wie oft schreibe ich darüber, was nicht klappt? Sehr oft. Zu oft!
Sowas prägt. Die Berichterstattung über Inklusion steht vor einer großen Herausforderung: Sicherlich muss benannt werden, was nicht funktioniert. Aber bei uns „Kritiker_innen“ gibt es naturgemäß eine moralische Empörung, die in sich eine Erhebung trägt. Und da sind wir wieder beim – genau – Paternalismus.
Ich selbst kann mich nicht ausnehmen. Ich bin kein „Behindertensprecher“. Ich reiße meine Klappe trotzdem auf, weil mich mein Leben und seine Umstände beschäftigen, denn ich verstehe mich als Aktivist. Aber auch ich muss ich mich fragen lassen, inwiefern ich für andere sprechen darf, ohne von ihnen gefragt worden zu sein. Ich glaube, dann ist Demut angesagt. Die hilft in solchen Dingen, und generell sowieso. Auf Social Media oder bei öffentlichen Veranstaltungen höre ich immer öfter viel mehr zu und lese zahlreiche Blogs von anderen Betroffenen. Ich gehe auf Konferenzen und Veranstaltungen und versuche vor Ort immer mit den Betroffenen und nicht dauernd mit den nichtbehinderten Heimleiter_innen zu reden.
Wir sind uns eigentlich ziemlich ähnlich
Manchmal ist Bevormundung wohl nötig. Ohne sie gäbe es keine Schulpflicht für Kinder. Wir würden uns in Autos nicht anschnallen müssen, und wild geraucht würde überall. Ich versuche es also nun mit der richtigen Dosis und schreibe mal auf, was alles einfach ist beim Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Behinderung – denn natürlich gelingt da eine ganze Menge, ob mit oder ohne Paternalismus:
In der Kindheit spielten wir gemeinsam mit denselben Matchboxautos, stritten um die Lieblingsschaukel auf dem Spielplatz. Schon in der Kita war es wichtig gewesen, gemocht zu werden und als cool zu gelten; meine Behinderung half dabei so wenig wie sie schadete. In der Jugend interessierten wir uns alle für Sex, waren mehr oder weniger schüchtern und redeten mal mehr, mal weniger darüber. Und wenn wir losfuhren, zum Beispiel zur Eisdiele, kam jeder mit: Alle kamen an, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. An der Uni ärgerten wir uns gemeinsam überfehlende Fahrstühle, krasse Klausuren und rächten uns mit Partys und Kiffen im Gebäude. Wer von uns eine Behinderung hatte und wer nicht, erinnere ich noch genau. Aber diese Erinnerung verschwimmt, da es für das Miteinander unter den Freunden, Klassenkameraden oder Kommiliton_innen keine Relevanz erzeugte, wer ein Hörgerät hatte und wer nicht, wessen Mutter im Rollstuhl saß oder wer mit einem Dreirad, einem Zweirad oder eben Rolli fuhr. Wichtiger war, wen man sympathisch fand, mit wem man lachen konnte – und wen man nicht riechen konnte.
So, das sollte reichen, um das stete Problematisieren und die negativ konnotierte Kommunikation zu diesem Thema in Schach zu halten, ohne beide aus dem Blick zu verlieren.