Ungenaue Sprache hilft niemandem
Wir leiden an einer besonderen Krankheit, und zwar an der Euphemismus-Falle. Die einzige Heilungsmöglichkeit: Sagen, was ist.
Zugegeben, der Leitspruch „Sagen, was ist“ vom ehemaligen Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein scheint ganz offensichtlich aus der Mode zu sein, seit der dort angestellte Reporter Claas Relotius aufschrieb, was nicht war, sondern vielmehr in seinem Kopf entstand.
Ich finde den Leitspruch nach wie vor gut. Werden die Dinge nicht genau benannt, entstehen Probleme. Unscharfe Formulierungen bergen Missverständnisse, lassen Paare sich entzweien und sogar Staaten in Kriegszustand fallen. Nicht sagen, was ist, zieht meist Unheil an.
Die Beschönigung bildet eine eigenartige Unterkategorie der ungenauen Sprache. Ich selbst habe es zum Beispiel immer komisch gefunden, wenn andere meine Behinderung als „Handicap“, „Herausforderung“ oder „anders befähigt“ bezeichnen oder mich als Menschen mit „speziellen Bedürfnissen“ beschreiben. Nun, ich glaube zwar schon, dass ich speziell bin. Das nehme ich aber von den Nachbar_innen auch an – bei dem grausigen Musikgeschmack! Und die darüber sind auch nicht ohne – bei den fragwürdigen Küchengerüchen! Allerdings sind meine Bedürfnisse nicht speziell (sprich extravagant), denn ich will mich als Mensch im Rollstuhl einfach ebenso fortbewegen können wie ein/e Fußgänger_in. Und ein Kind mit einer Lernbehinderung hat genauso wie ein Kind mit normalem Intelligenzniveau das Bedürfnis nach Bildung – sie für beide passend bereitzustellen ist notwendig, gerade weil sich die Wege unterscheiden.
Jeder Mensch hat etwas Spezielles an sich: Diese Aussage ist wiederum so allgemein, dass sie nichtssagend ist. Und sie lenkt ab; ich habe eine Behinderung, das ist zwar eine Herausforderung, aber nicht nur. Sie ist auch kein Handicap, denn ich spiele weder Golf noch dauert meine Behinderung nur ein, zwei Wochen. Auch sehe ich durchaus Befähigungen bei mir, aber nicht unbedingt gespiegelt durch meine Behinderung. Die Wahrheit, dass ich Glasknochen habe, mag hart sein, wird durch eine besondere Umschreibung aber nicht unwahrer. Ich lebe mit ihr, und das zu beschnönigen hilft keinen Deut.
Ich kenne übrigens gar keine anderen Menschen mit Behinderung, die sich wünschen, mit den obigen Attributen bedacht zu werden. Es ist seltsam, dass Menschen ohne Behinderung uns erzählen, wie wir Menschen mit Behinderung zu benennen sind. Eigentlich sollten sie auf uns hören, nicht umgekehrt.
Euphemismen schaden
In solchen Moment tut es gut, auf eine Studie zu stoßen, welche Forscher_innen an der University of Wisconsin-Madison und der University of Kansas unlängst veröffentlichten. Sie wollten wissen, inwiefern Euphemismen zielführend sind: Denn Euphemismen, also Glimpfwörter oder Beschönigungen, sollen ja effektiv sein. Ihre Urheber_innen benutzen sie, um eventuellen Beleidigungen vorzubeugen, um Gesichtsverlusten zu entgehen, um irgendwie zu helfen. Ich habe von Eltern gehört, die lieber von ihren Kindern mit „speziellen Bedürfnissen“ sprechen als „mit Behinderung“. Das Leben sei schon hart genug. Aber hilft derartiges?
Die Studie verneint diese Frage. Um die Effektivität des Euphemismus „special needs“ zu untersuchen, haben die Forscher_innen sogenannte Vignetten entwickelt. Also Kurzgeschichten über hypothetische Charaktere, die 530 erwachsenen Proband_innen vorgestellt wurden, welche dann Entscheidungen treffen mussten. Es ging um Situationen wie: In einem Studierendenwohnheim wird ein_e Mitbewohner_in gesucht, für die Schulklasse ein_e zusätzlich_e Schüler_in oder für ein Arbeitsprojekt ein_e Kollege_in. Die zur Auswahl stehenden vier „Kandidat_innen“ wurden biografisch beschrieben, die erste Person wurde mit „special needs“ versehen, die andere mit „disability“ (Behinderung), bei der dritten wurde die Art der Behinderung konkret benannt (blind, taub etc.) und bei der vierten wurde nichts über eine Behinderung erwähnt. Die Proband_innen sollten daraus ein Ranking erstellen. Welche Person stand mit Abstand am häufigsten an letzter Stelle? Eben jene mit den „special needs“! An erster Stelle wurden natürlich die „no label“-Leute gewählt, dann die vagen „has a disability“ und zumeist an dritter Stelle gelangten die mit der „certain disability“. Die wissenschaftliche Erkenntnis lautet also, dass die Beschönigung nicht funktioniert, sie bringt dem Adressierten keinen Erfolg. Es kommt noch schlimmer. Wer verschönert, so die Studie, dramatisiert nicht nur die wahrgenommene Negativität, sondern auch die wahrgenommene Negativität des verschönernden Wortes selbst. Eindrücklich illustrieren dies die Forscher_innen an den „speziellen Bedürfnissen“: Dieser Begriff ist so unspezifisch, Fluggesellschaften benutzen ihn gleichermaßen für Passagiere, die schwanger sind oder eine Erdnussallergie haben! Und alles, was speziell gemacht wird, wird potentiell segregiert. Da wird ein Fall referiert, wie ein Familienvater in einem Restaurant umgesetzt werden wollte, weil nebenan ein fremdes Kind mit einer offensichtlichen Behinderung saß. Seine Begründung: Menschen mit speziellen Bedürfnissen gehörten an spezielle Orte. Oder die Gerichtsklage einer Frau gegen ihre Nachbarin, weil in deren Garten der behinderte Enkel angeblich zu laut spielte. Inklusive Lamento darüber, dass Menschen mit einem „special needs child“ glaubten, zu einer speziellen Behandlung berechtigt zu sein. Das Spektrum der Probleme ist breit.
Dieses Vorgehen kommt mir bekannt vor. Plötzlich ist das Spielen im Garten etwas Besonderes. Oder die Rechte von Schwulen gelten als besonders. Und was bilden sich Frauen ein, gleichen Lohn beziehen zu wollen? Rechte aber sind universell. (Danke, Zivilisation!) Trotzdem wird einem ständig gesagt, was man ist und wie man sich zu fühlen hat. Frauen kennen dieses Phänomen vor allem als „Man-Splaining“ und Schwarze beim „White-Splaining“, währenddessen ihnen vorgegaukelt wird, man wisse identitätsbedingt mehr als sie. Wie wär’s damit… Lassen wir das einfach! Was Menschen mit Behinderung brauchen, ist kein Verschönern, sondern Entgegenkommen und Verständnis. Sagen, was ist!
Doch viele halten fest an einem ungesunden Umgang miteinander, obwohl sie ahnen, dass das, was als besonders oder außerordentlich deklariert wird, an den Rand gerät: Dies zeigt sich im Bildungsbereich besonders schwerwiegend. Denn, seien wir ehrlich, historisch betrachtet, ist die Öffnung des Bildungsbereichs für Menschen mit Behinderung jüngeren Datums. Segregation entspricht dagegen einer Tradition, und wer dies ändert, begeht eine systemische Infragestellung. Traditionell gehen Kinder mit Behinderung also in eine Schule, die früher „Sonder“-Schule hieß (womit wir wieder bei den besonderen Bedürfnissen sind), und nun etwas netter unter „Förderschule“ firmiert. Das ist komisch, denn die weltweite Forschung hat ergeben, dass Kinder in einem inklusiven Umfeld zu besseren akademischen und sozialen Ergebnissen kommen, also besser für das Erwachsenenleben gewappnet werden.
Man kann mit der Zeit nicht anders, als zu dem Schluss kommen: Das altbekannte Umfeld auch nur geringfügig anzupassen kostet viele immer noch mehr Überwindung, als die Etikette des „Speziellen“ hervorzuholen und zeitgleich eine ungenaue Sprache hochzuhalten. Leider hat diese Methode enormen Erfolg. Wie die Studie der University of Wisconsin-Madison offenbart, erfährt die Formulierung „special needs“ einen historischen Boom. Die „NGram“-Suche von Google erfasst seit dem Jahr 1900 veröffentlichte Bücher. Seit 1960, so verzeichnet es die Suchmaschine, tauchen die „special needs“-Schriften derart plötzlich und verbreitet auf, dass der Graph im Diagramm fast senkrecht nach oben steigt. Google Scholar vermerkt aktuell über eine Million wissenschaftliche Artikel mit dem Begriff „special needs“ und Amazon hat in der jüngsten Vergangenheit fast 5000 Bücher verkauft, welche „special needs“ im Titel tragen. Gesund, soviel kann ich sagen, ist all das nicht.
Ja, sehe ich ähnlich. Wir hatten auf Grund dieser Einstellung in meinem Unternehmen auch schon durchaus kuriose Vorfälle. Eine Rollstuhlfahrerin zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, obwohl wir nicht im geringsten für diese Art der Behinderung eingerichtet sind (alles nur über Treppen zugänglich, zu schmale Türen usw.) denn „sie ist ja ein Mensch wie alle anderen“. Was natürlich eine Aussage ist, die mit dem Problem die Beine nicht nutzen zu können so mal rein gar nichts zu tun hat. Eines Morgens hatten wir im Büro einen Mann sitzen, der eine schwere genetische Störung hatte (Fehlbildung der Gliedmaßen, eine ganz hohe Stimme) der, als ich mein Büro betrat, aufsprang um mich zu begrüßen und ich erstmal einen Moment völlig perplex war, weil ich darauf nicht vorbereitet war. Ich war schwer sauer weil das ein Moment war der für uns beide ziemlich unangenehm war. Man bereitet Kollegen nicht darauf vor, weil das ansprechen einer Behinderung den Menschen angeblich darauf reduzieren würde… Im übrigen ist der Autor offenbar Anhänger des Genderns. Vielleicht mal überlegen ob das nutzen von angeblich „gendergerechter“ Sprache nicht ähnlich unsinnig gelagert ist 😉
Deine Beispiele, Markus, bestätigen, wie ich finde, zwei Dinge: a) Inklusion ist nicht nur eine Frage der Einstellung und des Respekts oder der Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderung, sondern in allererster Linie ein Ausbau der Infrastruktur, die es braucht, um Menschen mit Behinderungen Teilhabe (an was auch immer) zu ermöglichen. Und b) ist Inklusion eben eine Aufgabe sowohl für Menschen mit als auch für Menschen ohne Behinderung. Dass du dich unvorbereitet auf die Begegnung gefühlt hattest, ist nachvollziehbar. Vielleicht geht es dem Mann, dem du im Vorstellungsgespräch begegnet bist, ähnlich – nur jeden Tag und bei jeder Begegnung.