„Haben Sie ein Kinderschutzprogramm?!“
Gesellschaften sind Sammelbecken unterschiedlichster Charaktere – inklusive abgründiger Persönlichkeiten. Eine Frage, die sich nicht nur Eltern immer wieder stellen sollte, lautet: Schaffen wir es, unsere Kinder gegen gefährliche, aggressive Personen zu schützen? Ein Erfahrungsbericht.
Tagtäglich sind mein Partner und ich bemüht, unser Kind möglichst umfassend vor äußeren Gefahren zu schützen. Zu Fuß entlang einer stark befahrenen Straße, bei Kletteraktionen auf dem Spielplatz oder bei Naschaktionen vermeintlich giftiger Vogelbeeren. Eltern kennen das.
Was aber, wenn die eigene Verantwortung für einen gewissen Zeitraum pro Woche an andere Personen übergeben wird? Vor allem solche, die man selbst nicht näher kennt. Da hilft eigentlich nur, die elterlichen Ängste zur Räson zu rufen, der Professionalität und Bindungsfähigkeit des „Fremdbetreuenden“ zu vertrauen und dem Leben mit einem gewissen Maß an Optimismus zu begegnen.
Kein Problem, denken sich die meisten bis hierhin. Das könnte sich ändern, wenn auch ihnen eines Abends ihr Kind Sätze wie diese entgegenschleudert: „Mama, mein Penis ist süß. Er hat zwei Augen und einen Mund. Aber das ist verboten, sonst kommt doch die Polizei!“ So geschehen bei uns vor wenigen Wochen.
Ein bisschen beunruhigt
Zunächst dachten wir, dass das kein so ungewöhnlicher Satz für einen vierjährigen Jungen sei, zumal sich unser Sohn Tom* mitten in seiner “analen Phase“ befindet, liebend gerne an seinem Geschlechtsteil herumspielt und sich in unbehelligten Momenten selbst im Supermarkt daran erfreut. Ein bisschen beunruhigt waren wir dann aber doch. Gewalttätiges, missbräuchliches Verhalten gegen Kinder sollte der Vergangenheit angehören. Aber in Wahrheit ist dieses Problem immer noch Teil der Gegenwart.
Auf unser Nachfragen, wer das gesagt habe, erwiderte Tom wie aus der Pistole geschossen: „Der Dieter!“ und auf meine Entgegnung „Wirklich?“ erzählte er zusammenhangslos: „Der Handwerker Ulfi ist ein Bauarbeiter!“ Dieter ist uns als Toms Kindergartenerzieher wohlbekannt. Der Name Ulfi sagte uns hingegen nichts. Am nächsten Morgen sprach ich die Kitaleiterin auf die Äußerungen unseres Sohnes an. „Ach, er meint den Ulf“, erklärte sie. Ein Handwerker, der regelmäßig für notwendige Reparaturen eingesetzt werde.
Vertrauenswürdig und beliebt
Nun entspann sich ein sicherlich für alle Beteiligten unangenehmes Gespräch über mögliche “Gefahren von innen“, welche kleine Kinder, die wehrlosesten Mitglieder unserer Gesellschaft, bedrohen könnten. Erzieher Dieter sei totsicher ein vertrauenswürdiger Mensch, schließlich arbeite er bereits viele Jahre in der Kita. Auch der Handwerker Ulf verstehe sich prächtig mit den Kindern. Er erkläre den Kleinen immer ganz genau, was er gerade repariere und sei stets von Kindern umringt. Ein sympathischer Mensch, noch dazu selbst zweifacher Vater, hieß es. Unwillkürlich dachte ich: „Was heißt das schon?“
Wenige Tage später schlossen sich an die seltsamen Äußerungen meines Sohnes weitere Sätze an wie: „Du doofer Kaka-Arsch, jetzt kommt mein Papa in die Kita und du kommst nicht mehr in meine Wohnung!“ oder „Mama, fasst du jetzt auch meinen Penis an und drückst drauf rum, bis es weh tut?“ Auch folgten unerwartete Weinkrämpfe auf ganz alltägliche Gegebenheiten, etwa nach der Aufforderung, doch gemeinsam mit einer Freundin in ein Kindercafé zu gehen…
Vom Kitabesuch beurlaubt
Für Toms Vater und mich gilt: Solange wir nichts Genaues wissen, bleiben wir mit einer offiziellen Anzeige oder Anschuldigungen höchst vorsichtig. Wir ließen uns also zunächst beraten, führten Gespräche mit der Kitaleiterin, der stellvertretenden Kitaleiterin, dem Erzieher Dieter und einer weiteren Erzieherin. Alles auf der ersten Blick unverfänglich.
Auf die Frage nach einem “Kinderschutzprogramm“ antwortete die Kitaleitung: „Die Putzfrau passt immer auf, dass sich Kinder nicht allein in den frei zugänglichen Kellerräumen befinden.“ Nicht gerade beruhigend. Zumal wir schon des Öfteren bemerkt hatten, dass sich Kinder allein in uneinsichtigen Bereichen aufhielten. Die Leiterin der Kita ist hingegen von ihrem offenen Konzept begeistert, wonach sich jedes Kind jederzeit aussuchen kann, in welchen Raum und zu welchem Erzieher es gehen wolle. Die tägliche Anwesenheitsliste, ob und wann man sein Kind bereits abgeholt habe, diene den ErzieherInnen vorrangig zur Orientierung, wie viele Kinder noch zu betreuen seien.
In erster Linie wollen wir unseren Jungen vor unmittelbaren Gefahren durch einen zwielichtigen Menschen schützen. Doch diese Sicherheit gibt es momentan nicht mehr. Daher haben wir Tom zunächst zwei Wochen vom Kitabesuch beurlaubt.
Unschuldig bis zur Schuldfeststellung
In Europa gilt strafrechtlich aus gutem Grund die Unschuldsvermutung: „Jedermann hat solange als unschuldig zu gelten, bis in einem allgemein gesetzlich bestimmten Verfahren rechtskräftig seine Schuld festgestellt wurde“. Zwei anonyme Beratungsstellen für Kindesmissbrauch und der Krisendienst des Jugendamtes sowie die Kinderärztin wurden allerdings bei unseren Schilderungen hellhörig. Doch würde zum jetzigen Zeitpunkt niemand eines Vergehens bezichtigt werden (können), geschweige denn gekündigt. Obwohl im pädagogischen Bereich schon der Verdacht eines sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen schwerwiegt.
Die Sätze meines Sohnes schreckten in der Kita zwar jeden auf. Über ein anderes Betreuungskonzept wollte dennoch niemand auch nur nachdenken. Dass die Gefahr derart abwegig sei, wie die beiden Leiterinnen annehmen, sehen wir als Eltern anders. Sexueller Missbrauch kommt in allen Gesellschaftsschichten vor. Das Täterprofil passt häufig auf gut angepasste, unauffällige und scheinbar normale Familienmenschen mittleren Alters.
Unser Kind zu schützen heißt für uns nun, in den sauren Apfel zu beißen und vorläufig keine externe Betreuungsoption mehr in Anspruch zu nehmen. Dass andere Eltern sich anders entscheiden, bleibt ihnen überlassen. Wir fühlen uns damit auf jeden Fall sicherer.
(* Alle Namen geändert, Anm. d. Red.)