ContraKein Mensch ist eine Insel
Wer bin ich? Was macht mich aus? Das sind existenzielle Fragen, die viele Menschen umtreiben. Dass wir alle unterschiedlich sind, ist eine Tatsache. Weniger eindeutig ist allerdings, ob unser Selbstbild vor allem in Abgrenzung zu anderen entsteht.
Das Streben nach Individualismus ist heute, in Zeiten, in denen der Trend zu Persönlichkeitsentwicklung boomt und Coaching-Programme wie Pilze aus dem Boden schießen, verbreiteter als je zuvor. Sich maßgeblich an der Freiheit und den Interessen Einzelner zu orientieren, empfinden wir grundsätzlich nicht als verwerflich, sondern als ermächtigend und geradezu intuitiv. „Du bist anders als die anderen“, so ein Ausspruch gilt als großes Kompliment. Doch unsere eigene Identität entwickeln wir auch dann, wenn wir nicht dem vermeintlichen Ideal des Individualismus nacheifern.
Eine individualistische Selbstdefinition – ist das überhaupt realistisch?
Zunächst müssen wir uns die – möglicherweise schmerzhafte – Frage stellen, wie realistisch der Wunsch nach einer von allen anderen unabhängigen Selbstdefinition überhaupt ist. Denn die eigene Selbstwahrnehmung ist auch davon abhängig, wie unser Umfeld uns spiegelt und einordnet. Wir können noch so sehr nach Einzigartigkeit streben – letztendlich wird unser Selbstbild stark von Faktoren geprägt, die außerhalb unseres Einflussbereichs liegen. Wir leben eben nicht in einem Vakuum, sondern kommunizieren und interagieren ständig.
Dazu passt die Analyse des kanadischen Philosophen Charles Taylor, der in seinem Essay „The Politics of Recognition“ Identität mit Anerkennung bzw. fehlender Anerkennung in Verbindung bringt. Er bezieht sich dabei vor allem auf marginalisierte Gruppen wie Frauen oder People of Colour, die durch die gesellschaftliche Spiegelung einschränkender oder erniedrigender Bilder ein verzerrtes und defizitäres Selbstbild entwickeln können.
Ich als Teil von etwas Größerem
Auch in unserer Entwicklung spielen „die anderen“, das heißt unser soziales Umfeld, eine wichtige Rolle. Sie beeinflussen nicht nur unsere Selbstwahrnehmung und -verwirklichung, sei es in politischer oder religiöser Hinsicht, sondern bieten auch Gelegenheit zur Selbstidentifikation als Teil einer Gruppe.
In der Psychologie wird zwischen sozialer und personaler Identität unterschieden. Die personale Identität beschreibt die Selbstinterpretation als eigenständige Person, die soziale Identität das Selbstkonzept, das aus der Mitgliedschaft zu einer sozialen Gruppe herrührt. Wir entwickeln ein Zugehörigkeitsgefühl – sei es als Teil einer Fangemeinschaft oder einer Sportgruppe. Doch auch Populist*innen bedienen sich dieser Identitätskonzeption mithilfe von Narrativen, die Zugehörigkeit suggerieren und andere Gruppen abwerten.
Der Großteil der Identitätsentwicklung findet in der Pubertät statt; sie erfordert eine Orientierung und Verortung in der Gesellschaft: Wo ist mein Platz? Und sie kann daher nur in der Interaktion mit anderen stattfinden. In dieser Identitätsentwicklung spielt die soziale Identität eine große Rolle. Für mich persönlich (und für mein Selbstbild) war es in dieser Zeit wichtig, Mitglied einer Gruppe zu sein und mich zugleich als Mitglied einer Gruppe zu verstehen. Ich wage zu behaupten, dass ich nicht die Einzige war, der es so ergangen ist. Ebenso beginnen wir in dieser Phase, Verantwortung für andere zu übernehmen. In Beziehungen oder spätestens bei einer Familiengründung steht eben nicht mehr nur das „Ich“ im Mittelpunkt.
Auch wenn dem „Durchschnitt“ zu entsprechen heute schon fast als Beleidigung gilt, hat die überwiegende Mehrheit ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Zugehörigkeit – sei es zur „coolen“ Clique oder zu einer bestimmten Subkultur. Jugendliche, die scheinbar alle die gleiche Kleidung tragen, bringen dieses Bedürfnis meist überdeutlich zum Ausdruck und definieren sich über solche stilistischen Zugehörigkeiten.
Identität hier und anderswo
In weniger individualistisch geprägten Gesellschaften ist die Identitätsentwicklung möglicherweise sogar noch stärker vom Umfeld abhängig. In einer Studie aus dem Jahr 2004 stellen die Autoren um den Psychologen Marc G. Berman die Hypothese auf, dass sich die individuelle Identität in nicht-westlichen Kulturkreisen eher anhand einer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft festmachen lässt.
Wer also Individualismus als notwendige Voraussetzung für die Identitätsentwicklung ansieht, lässt womöglich einen großen Teil der Menschheit außen vor – und nimmt einen einseitigen Blickwinkel ein. Denn Identitätsentwicklung unterliegt keiner einheitlichen Definition. In der (altägyptischen) kemetischen und der konfuzianistischen Philosophie bestimmte sich das Selbst beispielsweise vor allem über Beziehungen und Gemeinschaft.
Wo es an gemeinsamen Zielen und Werten mangelt, tun sich Menschen andererseits auch mit ihrer Selbsteinordnung schwer. Der russische Soziologe Grigori Judin beschreibt diese Problematik vor dem Hintergrund des modernen Russlands, wo er einen „aggressiven Individualismus“ feststellt. In diesem Zusammenhang befindet er: „Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.“
Das soll nicht heißen, dass Individualität vernachlässigbar ist. Auch ich habe mich schon damit gerühmt, „anders“ zu sein. Und natürlich befürworte ich keine Gesellschaft, in der alle einheitlich in Reih und Glied stehen. Doch, egal ob Coronakrise oder Klimawandel: Um es mit den Herausforderungen unserer Zeit aufnehmen zu können, benötigen wir – neben innovativen Ideen und neuen Utopien – auch einen gewissen Konsens und Zusammenhalt. Individualismus ist für unsere Identitätsentwicklung weder ausreichend noch zielführend: Eine lebenswerte Zukunft lässt sich allein mit dem Streben nach Individualität sicher nicht gestalten.