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Europa? Mag sein – oder nicht

Von Lilith Diringer / 14. April 2021
picture alliance / Jan Haas | Jan Haas

2019 ging zu den Wahlen des Europäischen Parlaments ein Seufzer der Erleichterung durch die Politik: Endlich, die ersehnte, gestiegene Wahlbeteiligung! Obwohl fast die Hälfte der Wahlberechtigten darauf verzichtet hatte, die eigene Stimme abzugeben. Bedeutet Brüssel Europas Bevölkerung so wenig?

22,7 Prozent. So hoch beziehungsweise niedrig war der Anteil der Slowak*innen, die 2019 ihren Wahlzettel gültig ausgefüllt hatten. Die Bevölkerung dieses Binnenstaates scheint besonders desinteressiert an der Europapolitik. Insbesondere im Vergleich mit der Situation in Belgien, das sich mit 88,5 Prozent beteiligter Bürger*innen zum stolzen Spitzenreiter Europas küren darf.

Doch ergibt sich fast überall ein gewisses Desinteresse an den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP). 2019 war lediglich in fünf von 27 Mitgliedsstaaten keine geringere EU-Wahlbeteiligung zu verzeichnen als bei den jeweiligen nationalen Entscheidungen. Dabei fanden in vielen dieser Länder die nationalen Wahlen sogar am selben Tag statt, sodass die zur Wahl aufgerufenen Bürger*innen mit nur einem Gang zur Urne ganz bequem gleich zweimal zu einer Richtungsentscheidung hätten beitragen können.

Wissenschaftler*innen wollen darin eine sogenannte „Second-Order-Election“ erkennen. Hiernach werden nationale Wahlen im Vergleich zu den europäischen als relevanter wahrgenommen. Die Wähler*innen identifizierten sich stärker mit vor Ort aktiven Staatspolitiker*innen und empfänden die Entscheidungen innerhalb ihres Landes als deutlich weitreichender für ihre eigene Lebenswelt, so die These. Entsprechend unwichtig würden europaweite Abstimmungen angesehen. Trotz etlicher Vorgaben aus Brüssel.

Doch auch Nichtwähler*innen sind von Abwägungen für die nationale Ebene geleitet und sehen in europaweiten Entwicklungen eine (zu) geringe Einflussnahme auf die innerstaatliche Politik. Obgleich dieses Argument längst nicht auf alle Nichtwähler*innen zutrifft – so meinen Verfechter*innen der „Issue-Voting Theorie“. Für sie drücken Personen, die sich der Wahlbeteiligung entziehen, damit ebenfalls eine klare politische Haltung aus. Und zwar die stärkste, die es gegen das Ideal der europäischen Integration gibt; sich einer europaskeptischen Partei anzuschließen, sieht die Wissenschaft demnach weniger kritisch.

BREXIT: Bedeutungsgewinn für die EU?

Im Zuge der „Eurobarometer-Studie“ zur EU-Wahl 1994 bestätigte sich Grundlegendes: Viele Nichtwähler*innen stellen sowohl die Sinnhaftigkeit der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU in Frage und haben ein eher negatives Bild des EP. Außerdem ist die Wahlbeteiligung in sogenannten Nettoempfängerländern tendenziell höher als bei Nettozahlern. In ersteren ist dem Wahlvolk wohl bewusst, wie sehr es von der EU-Mitgliedschaft profitiert. Belgien beispielsweise verdient reichlich an den Kostenerstattungen für EU-Organe mit dortigem Sitz. Doch lückenlos lässt sich diese Theorie nicht anwenden: Ausgerechnet Belgien zählt trotz dessen knapp zu den Nettozahlern; und die Wahlberechtigten in der Slowakei lassen sich für die EU auch angesichts hoher Einnahmen nicht zur Urne bewegen.

Was aber treibt die Wähler*innen dann an? Laut Eurobarometer-Umfrage zu den Wahlen 2019 wurde der Wahlgang aus bürgerlicher Perspektive als Pflicht angesehen. An zweiter Stelle folgten die Gewohnheitswähler*innen. Weitere Motive: die Unterstützung des Projekts “EU“; das Anliegen, die Partei der eigenen Gesinnung zu unterstützen wie auch der Wunsch, durch die Stimmabgabe etwas zu verändern. Interessant dabei: Standen die Institutionen der EU vor 2019 zwar nicht überwiegend positiv in den Schlagzeilen, so waren sie immerhin dauerhaft präsent durch langwierige BREXIT-Verhandlungen sowie viel Diskussionsbedarf in der Migrations- und Klimapolitik. Umstritten bleibt jedoch, ob daraus ein wirklich nachhaltiger Bedeutungsgewinn der EU folgt.

Der Rechtskonservatismus legt zu

Sicher ist, durch die Bildung paneuropäischer Koalitionen und die Debatte um transnationale Wahllisten ähneln europäische zunehmend nationalen Wahlen. Die Angst vor einem überproportionalen Stimmenzuwachs populistischer Parteien, wie von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron prognostiziert, könnte 2019 zu einer Mobilisierung zusätzlicher Bürger*innen aus dem gemäßigten Lager geführt haben. Die Dramatisierung der Wahl als „Schicksalswahl“, wie unter anderen der Politikwissenschaftler und Europaspezialist Michael Kaeding es beschrieb, hat vermutlich dazu beigetragen, dass potenzielle Wähler*innen zur Stimmabgabe motiviert werden konnten.

Auch ließ sich eine unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den sozioökonomischen Gruppen dokumentieren. Besondere Einflussfaktoren: Alter und Bildung. Dabei bestand eine deutlich höhere Wahlbeteiligung unter älteren Bürger*innen und Personen mit höherem Bildungsabschluss. Die EU-Parlamentswahlen 2019 müssen deswegen jedoch nicht als “elitärer“ gelten als vorangegangene nationale Wahlen. Eine Rolle spielt der Faktor Alter mit Blick auf die jeweilige Thematik: Unter Jüngeren stand der Klimawandel beispielsweise an erster Stelle, bei den Älteren hingegen der Schutz der EU-Außengrenzen.

Im selben Jahr legten indes rechte Parteien an Stimmen zu. Der Historiker Norbert Frei warnte im Vorfeld in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vor einem regelrechten „Triumph der Rechtspopulisten bei der Europawahl“. Wie Richard Stöss von der Freien Universität Berlin (FU Berlin) feststellte, vielleicht weil sich deren Forderungen zunehmend auf den Rückbau der EU zu einem Bündnis von unabhängigen Nationalstaaten richteten, maximal in Form einer Wirtschaftsunion.

Inzwischen spricht Stöss dem Rechtskonservatismus eine wachsende Bedeutung gegenüber dem Rechtsextremismus zu. Tatsächlich sollte man angesichts zahlreicher Angehöriger der Rassemblement National (RN, bis 2018: Front National), des italienischen Movimento 5 Stelle (M5S) oder der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) nicht allzu entspannt auf anstehende Wahlperioden blicken. Nicht weniger entscheidend wird die Bewertung der europaweiten Maßnahmen in Folge der COVID-19-Pandemie sein. Wann kriegen wir sie in den Griff? Wie solidarisch sind wir dabei? Welche Wirkung entfalten die EU-Corona-Aufbaufonds? Die Antworten darauf werden sich in den Wahlen 2024 niederschlagen.

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