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Ideal, aber instabil

Von Patricia Kutsch / 25. August 2021
picture alliance / United Archives/IFTN | IFTN

Figur, Frisur, Familienleben: Auf der Suche nach der jeweils besten Version konsultieren wir häufig andere Leute. Soziale Netzwerke fördern diesen Austausch, aber eben auch dauerhaftes Vergleichen. Was heute „gefällt“, könnte morgen wieder „out“ sein. Aber warum?

Um den Idealbildern in unseren Köpfen zu entsprechen, gehen wir ins Fitnessstudio oder zum Friseur, fahren in die Ferien. Vorher schnell noch ein Abgleich mit dem, was in den sozialen Netzwerken gerade im Trend liegt und was sogenannte Influencer promoten, und schon sind auch die eigenen Vorlieben geformt. Doch lange halten diese propagierten Ideale meist nicht vor. Sie verändern sich im Laufe der Zeit, manche deutlich schneller als andere.

Von Kultur, Epoche und Machthabern geprägte Idealmaße

Versteckte weibliche Attribute im Mittelalter und kurvige Frauen im Barock: Welches Schönheitsideal in Gesellschaft und Kultur zu einer bestimmten Zeit galt, hing schon immer stark von den Lebensumständen ab, also von Religion oder Machthabern.

Im Mittelalter spielte das Christentum eine besonders große Rolle – mit seiner Vorstellung von der Frau als Quelle der Sünde. Kein Wunder, dass weibliche Rundungen damals eher versteckt wurden. Als Schönheitsideal im mittelalterlichen Europa angesehen waren schmale, mädchenhafte, ja sogar androgyne Frauen.

Mit dem schrumpfenden Einfluss der Kirche im ausgehenden Mittelalter änderte sich das. Den Menschen als Individuum im Blick brachte ein neues Bild vom menschlichen Körper zustande. Plötzlich galten üppige Frauen im Barock besonders anziehend. Bei Männern waren mit Beginn des 19. Jahrhunderts kurze Haare, Kraft und Ausdauer geschätzt – ein Ideal, bei dem Mann wenig Zeit für das äußere Erscheinungsbild aufwenden musste und stattdessen körperliche Fähigkeiten im Vordergrund standen.

Und heute? Wir leben im Überfluss, viel Essen, wenig Bewegung. Mit der Folge, dass viele Menschen mit Übergewicht kämpfen. Das gesellschaftlich idealisierte Körperbild könnte nicht gegensätzlicher daherkommen: schlank, durchtrainiert und somit auch diszipliniert.

Wie schnell sich alleine Schönheitsideale wandeln, zeigt der Blick auf unterschiedliche Generationen, deren Präferenzen sich immer wieder ändern. Ästhetisch relativ konstant bleibt Forschern zufolge die positive Wahrnehmung symmetrischer Gesichtszüge und wohlgeformter Proportionen. Aus genetischer Sicht sollen diese Faktoren für eine erfolgreiche Fortpflanzung sprechen.

Wie menschenverachtend ein derart ausgerichtetes Schönheitsideal angelegt sein kann, hat der Nationalsozialismus bewiesen. Durch eine „Zucht der Besten“ war man auf ansehnliche, sportliche, heroische Germanen aus. An ihrer Seite ebenfalls schöne und widerstandsfähige, bevorzugt blonde, blauäugige Frauen, um gemeinsam starke Nachkommen zu zeugen. Wer dieser Vorstellung nicht entsprach, war schnell um seine Selbstbestimmung gebracht und hatte im schlimmsten Fall sein Recht auf Leben verwirkt.

Stabiler als nationalsozialistische Propaganda ist zum Glück diejenige Definition idealen Lebens, die sich über lange Zeit ungehindert aus einer freien Gesellschaft heraus entwickeln und offen ausgelebt werden konnte. Doch eine solche Entstehungsweise ist nicht unbedingt frei von Vorurteilen.

Durch Traditionen, Gesellschaft und Gesetze bestimmt

Gesellschaft prägt uns nicht nur dahingehend, wie wir idealerweise aussehen sollten. Sie formt unsere Vorstellungen vom „guten Leben“. Von klein auf beobachten wir, wie unsere Mitmenschen ihren Alltag bewältigen; vieles wird für uns selbstverständlich und einiges auch wünschenswert. So herrscht in vielen Köpfen ein festes Bild von der idealen Familie vor: Vater, Mutter, Kind(er). Karriere, Auto, Eigenheim im Grünen. Aber dieses Leitbild hat langsam ausgedient.

Heute ist für immer mehr Menschen ein Familienideal erstrebenswert, das Gleichstellung ermöglicht. Mann und Frau teilen sich Haushalt und Kindererziehung, gehen beide einer Erwerbsarbeit nach. Geschlechtergerecht geht es damit aber nur bedingt zu: Vor dem Gesetz sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften oft im Nachteil, egal, wie nahe sie einem Beziehungsideal kommen.

In Mitteleuropa ist der Grad an Gleichberechtigung insbesondere den politischen Kämpfen engagierter Frauen zu verdanken. Ebenso haben Homosexuelle veraltete gesellschaftliche Normen so lange hinterfragt bis sie abgeschafft werden konnten: Seit 1994 ist Homosexualität zumindest hier in Deutschland nicht mehr strafbar; 2017 hat der Gesetzgeber zudem die „Ehe für alle“ möglich gemacht. Während der klassische Familienentwurf also weiterhin existiert, gilt er längst nicht mehr als idealtypisch.

Realität beeinflusst das Ideal und umgekehrt

Es bleibt dabei, dass Ideale lediglich ein Spiegel unserer unbeständigen Realität sind und umgekehrt diese Realität unsere Ideale spiegelt. Unrealistischen Idealen hängt zwar der Verdacht an, unpassend und unerreichbar zu sein. Sie können aber genauso gut für ein ehrenwertes Ziel herhalten, das über die gelebte Wirklichkeit hinausstrebt. Erzwungene Ideale aber, die realistischerweise vorhandene Bedürfnisse und Lebensumstände ignorieren, verzerren unser Selbstbild wie auch den Eindruck, den wir von anderen haben.

Dass in den sozialen Netzwerken Influencer als Vorreiter regelrecht angehimmelt werden, verdeutlicht, dass selbst wir heute noch an Idealen festhalten, sie mit erschaffen wollen. Insbesondere in Sachen Optik. Inwiefern zum Beispiel Bewegungen wie #nofilterneeded gegen bearbeitete, geschönte Bilder im Netz für eine Trendwende stehen, muss sich noch zeigen. Bis dahin bleibt Idealisieren ein trendiger Zeitvertreib.

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