Mit dem Unberechenbaren rechnen
Den Zufall studieren? Das klingt vor allem in den Naturwissenschaften, die ja nach Gesetzmäßigkeiten in Natur und Technik suchen, nach einem Widerspruch. Dennoch: Das Unvorhersehbare hat einen festen Platz in der Forschung.
„Gott würfelt nicht.“ Soll zumindest Albert Einstein gesagt haben – und von vielen wird er zitiert, wenn sie ausdrücken wollen, dass es keine Zufälle in der Welt gebe. Eine Auffassung, die in den nach Ursache-Wirkung-Zusammenhängen suchenden Naturwissenschaften ebenfalls lange Zeit vorherrschend war.
Denn diese „Zufälle“ entziehen sich kausalen Erklärungen. Das deuten schon die ersten Erwähnungen des Wortes im Mittelalter an. „Zuoval“ ist eine Lehnübersetzung des lateinischen accidens und bedeutet so viel wie „das, was jemandem zufällt oder zustößt“. Etwas also, das von außen unerwartet in unser Leben tritt.
Eine Frage, so alt wie der Blick zum Himmel
In seiner heutigen Bedeutung als das „nicht Vorhersehbare“ oder auch das „nicht Beabsichtigte“ hat sich der Begriff erst im 17. Jahrhundert etabliert. Schon viel früher allerdings begannen sich die Menschen zu fragen, ob ihr Leben einem von außen festgelegen Plan folgt. Um 500 v. Chr. suchten die Babylonier Antworten darauf am Sternenhimmel. Sie erfanden eine frühe Form der Astrologie – heute wohl eine der Pseudowissenschaften schlechthin. Aber auch die „echten“ Wissenschaften beschäftigte die Frage nach einer möglichen Berechenbarkeit des Lebens mehr und mehr.
Mitbegründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung wie Blaise Pascal, Jakob Bernoulli und Pierre-Simon Laplace vertraten dabei im 17. und 18. Jahrhundert eine deterministische Auffassung: Sie glaubten, dass der Zufall bloß ein Ausdruck der menschlichen Unkenntnis sei und sich die Zukunft mit geeigneten Mitteln und Methoden exakt berechnen ließe.
Mit einem solchen Verständnis wurde es bei der philosophischen Frage nach dem freien Willen jedoch knifflig. Gäbe es diesen, müsste jede:r Einzelne seine:ihre Entscheidungen unabhängig von äußeren Einflüssen treffen können, also nicht vorherbestimmt, determiniert agieren. Doch das entspricht gerade der Definition eines „Zufalls“. Sind Handlungen also nach dieser Definition bewusst gewählt oder geschehen sie rein zufällig?
Vom göttlichen Zufall zum Ziegenproblem
Auch andere Disziplinen stellte die Erforschung des Zufalls vor Herausforderungen. So grübelten Psycholog:innen, wann und wodurch wir ein Ereignis überhaupt als „zufällig“ wahrnehmen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein spielte dabei der Glaube an ein göttliches Wirken eine große Rolle, wie ein Zitat des französischen Schriftstellers Théophile Gautier verdeutlicht: „Zufall ist vielleicht das Pseudonym Gottes, wenn er nicht selbst unterschreiben will.“ Wie komplex, ungewöhnlich und bedeutsam uns etwas erscheint, sollte unser subjektives Denken und Empfinden darüber prägen.
Dass es dabei oft schwerfällt, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen, zeigt das sogenannte Ziegenproblem – ein fiktives Szenario, bei dem ein:e Kandidat:in einer Quizshow zwischen drei Türen wählen darf. Hinter einer befindet sich ein Sportwagen, hinter den anderen beiden bloß Ziegen. Nachdem die Wahl getroffen wurde, öffnet der Moderator allerdings eine von ihm selbstgewählte Tür, hinter der in jedem Fall eine Ziege steht. Die Kandidatin darf daraufhin seine Wahl nun noch einmal überdenken – bleibt sie bei ihrer Entscheidung oder nicht. Die Folge ist: Sie geht davon aus, dass seine Gewinnchancen bei 50 zu 50 liegen. Richtig? Mitnichten.
Hier nochmal zur Verdeutlichung: Am Anfang entscheidet sich die Spielerin mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:3 für die richtige Tür. Dann greift der Moderator ein und enthüllt in jedem Fall eine Ziege. Es gibt nun drei Möglichkeiten für die Kandidatin: Entweder sie hat tatsächlich im ersten Versuch den Sportwagen gewählt und würde dadurch bei einem Wechsel verlieren. Oder sie hat anfangs eine der zwei Ziegen gewählt. In den letzteren beiden Fällen ist der Wechsel für sie sinnvoll, da der Moderator schon eine weitere Ziege enthüllt hat. Hinter der letzten, verschlossenen Tür kann deshalb nur der Sportwagen warten. Das heißt: Die Gewinnchance des Kandidaten beträgt im zweiten Szenario 2:3 statt 1:2.
Wie die Wissenschaften heute mit dem Zufall umgehen
Logisch, oder? Tatsächlich verwirrt das Ziegenproblem nicht nur, sondern zeigt auch: Ob uns etwas wie ein Zufall vorkommt, hängt oft damit zusammen, wie viel wir über ein bestimmtes Phänomen wissen. Die seit langem bekannte Bewegung von Himmelskörpern können Forscher:innen heute sehr gut nach dem Ursache-Wirkung-Grundsatz berechnen und dadurch Vorhersagen treffen. Aber es gibt auch Fälle, da greift dieses Prinzip nicht: Was beispielsweise ein Haustier in einer Stunde machen wird, ließe sich selbst bei genauer Entschlüsselung seines Gehirns nicht von vornherein sagen. Ein winziger Fehler in der Berechnung kann das Endergebnis verfälschen. Die Quantenphysik habe zudem gezeigt, wie der Medienwissenschaftler Stefan Höltgen gegenüber dem MDR erklärte, dass wir bestimmte Regelhaftigkeiten, die beispielsweise beim Zerfall eines Atomkerns auftreten, nicht kennen (was nicht heißt, dass es sie nicht gibt) und sie deshalb gezwungenermaßen für „zufällig“ halten müssen.
Die Quantenphysik hat übrigens auch Albert Einstein zu seinem berühmten Würfel-Zitat bewegt. Aber nicht so, wie viele es interpretieren. Der Physiker und Wissenschaftsjournalist Ulrich Walter schrieb in der Welt, dass Einstein den Satz so nie gesagt haben, sondern im Gegenteil an den Zufall geglaubt haben soll. Und das offenbar zu Recht: Manche Erfindungen wie das Penicillin oder die Röntgenstrahlen wurden erst durch puren Zufall entdeckt. Und Bücher wie „Der Zufall, das Universum und du“ des Physikers Florian Aigner, das in der Kategorie Naturwissenschaft/Technik zum „Wissenschaftsbuch des Jahres 2018“ gewählt wurde, zeigen, dass das Unberechenbare die Forschung weiter fasziniert und beflügelt.