Braucht Berliner Poetry Slam Feminismus?
Annette und Birdy arbeiten als Veranstalterinnen in der Berliner Poetry Slam-Szene. Sie slammen, moderieren und haben ein Kollektiv namens Kunst & Krawall gegründet, mit dem sie geschlechtergerechte Bühnen schaffen wollen.
„Es könnte ein bisschen weniger Arbeit sein“, sagt Birdy, lacht und klopft ihrer Mitstreiterin auf’s Knie. Annette seufzt. Ein Kollektiv zu gründen, sei die bescheuertste und tollste Idee zugleich gewesen, sagt diese. Annette, Birdy, Inke und Petra haben am 1. Januar 2022 Kunst & Krawall begründet – ein feministisches Veranstaltungskollektiv. In Berlin waren sie das erste FLINTA*-Kollektiv im Poetry Slam. „Und in Deutschland vielleicht auch“, überlegt Annette und nippt an ihrem Milchkaffee. FLINTA*, das ist ein Sammelbegriff für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans- und a-gender Personen. Und Poetry Slam, das ist ein Wettbewerb, bei dem Menschen selbstverfasste Texte innerhalb einer bestimmten Zeit von einer Bühne aus vor Live-Publikum vortragen.
Wir treffen uns im Café Milch & Zucker an der Warschauer Straße. Eigene Räume besitzen die beiden noch nicht, denken aber darüber nach, einen Coworking Space zu mieten. Vor Kunst & Krawall waren alle vier Frauen unabhängig voneinander als Veranstalterinnen in der Poetry Slam-Szene unterwegs. Keine hatte für sich ein Kollektiv gefunden. Gemeinsam bei einem dieser intensiven Gespräche um zwei Uhr nachts beschlossen sie, einfach ihr eigenes Ding zu machen. „Jedes Bühnenformat braucht den Feminismus“ betont Birdy. Feministischer Poetry Slam sei in erster Linie kein Wettbewerb, sondern ein „Schulterschluss“, der Versuch, einen „Safer Space“ zu schaffen. Bevor sie sich in Jena mit ihren Texten auf eine Bühne traute, sei sie keine Feministin gewesen. Dort gewann die 28-Jährige ihren ersten Slam, so werden die Auftritte im Scheinwerferlicht genannt. Trotzdem wurden einige ihrer männlichen Kollegen deutlich öfter für Veranstaltungen gebucht. Die Benachteiligung, die sie als Frau am eigenen Leib erfuhr, habe sie erst Jahre später reflektieren können.
Eine Frage der Perspektive?
Bis heute hat keine einzige Frau die internationalen deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften gewonnen – den Wettbewerb gibt es seit 2000. „Es ist nicht so, dass wir nicht auf die Bühne wollen“, sagt Annette. Aber, ergänzt Birdy, sich vor Menschen auf eine Bühne zu stellen, das sei vor allem cis-Männern in die Wiege gelegt. Erfolg werde an männlichen Stereotypen wie Stärke und Mut gemessen. Als Annette vor 15 Jahren mit dem Slammen anfing, hätte man backstage noch geraucht und getrunken. Heute setze sie sich für sichere Backstage-Bereiche ein und dafür, dass der Wettbewerb auf der Bühne bleibt und nicht dahinter getragen werde.
Tatsächlich, in der Szene verändert sich etwas. Die Line-Ups werden diverser, leisere Charaktere etablieren sich schneller. Im Kollektiv fällt es in Birdys Verantwortlichkeit, Künstler*innen für Veranstaltungen zu buchen. Ihr Ziel? Möglichst viele Perspektiven abbilden und das unter anderem durch Geschlechterparität im Line-Up. Wer gewinnt, sei dabei Nebensache: „Ich buche eh alle wieder.“
Die Gründerinnen von Kunst & Krawall sind keine gelernten Veranstaltungskauffrauen. In Vieles würden sie erst noch hineinwachsen, so Annette. Momentan hapert es an der Webseite. Dafür ist eine ladungsfähige Geschäftsanschrift erforderlich, unter der die Gründerinnen tatsächlich anzutreffen sind. Diese Vorschrift benachteilige kleine Gründer*innen, erklärt Birdy und schiebt ihren Kurkuma-Latte beiseite, um den gestikulierenden Händen Platz zu schaffen. „Es geht hier nicht um ein persönliches Problem, dass ich meine Adresse nicht preisgeben will. FLINTA*s machen alltäglich Erfahrungen mit Belästigung. Und als Teil eines Kollektivs, das sich politisch positioniert, möchte ich nicht privat auffindbar sein“, sagt die 28-Jährige. Sie habe Angst, dass gewaltbereite Menschen vor ihrer Haustür auftauchen könnten. „Manche halten uns für einen ‚links-grün versifften‘ Haufen“, sagt Annette. Sie ist Mutter und will ihre Privatsphäre auch wegen ihrer Tochter schützen. „Dass wir uns jetzt um eine Gewerbefläche bemühen müssen, fühlt sich so an, als müssten wir für unsere eigene Sicherheit zahlen“, so die 43-Jährige.
In Berlin gibt es den Raum
Um von Kunst & Krawall zu leben, reichen die Einnahmen vorne und hinten nicht. Annette arbeitet als Erzieherin, Birdy ist hauptberuflich als Sozialarbeiterin tätig. Beide wollen ihre „Brotjobs“ nicht aufgeben, als Ausgleich und um den Blick für die Lebensrealität nicht zu verlieren. Etwas, das kreativen Köpfen schnell passieren könne. Trotz ihrer Kritik an benachteiligenden Strukturen fühlen sich beide in der Berliner Poetry Slam-Szene wohl. „Vor dem Slammen habe ich mich in allen Kontexten irgendwie außen vorgefühlt,“ sagt Birdy. Sie wäre schon als kleines Mädchen immer ein bisschen zu laut und zu aufgeweckt gewesen. Annette hat Ähnliches erlebt, doch gerade in Berlin gäbe es den Raum, um über Missstände zu reden und daran zu arbeiten. Als Veranstalterin möchte sie die Qualität ihrer Slams und ihre eigenen Awareness Standards aufrechterhalten. FLINTA*-Personen bräuchten eine andere Bestätigung, müssten häufiger angesprochen werden, ob sie nicht wieder auftreten wollen und ob sie eventuell zu einer Veranstaltung eine Begleitung wünschen. „Ich habe mir immer Bühnen gewünscht, so wie wir sie gestalten“, sagt Birdy.
In ihrem zweiten Geschäftsjahr will Kunst & Krawall Menschen mit ins Boot holen, die in der Veranstaltungsbranche aktiv werden wollen. „Stabile Nachwuchsarbeit und mehr Workshops“ lautet Annettes Plan. Vielleicht auch nicht ganz uneigennützig, denn als Poetry Slammerin stand sie zuletzt immer seltener auf der Bühne. Auch Birdy wünscht sich mehr Freiraum für ihre Kunst. „Beim Moderieren trittst du immer so souverän auf“, sagt Annette. „Findest du?“, fragt Birdy. Annette nickt. „Meine Selbstwahrnehmung ist oft konträr zu dem, was andere in mir sehen“, sagt Birdy. Stille. Die zwei sehen sich an. „Weibliche Sozialisierung“, sagen sie und lachen.